Vom Lkw gefallen?

Betrachtet man die Neubaugebiete von heute, wirken sie oft beliebig, austauschbar und banal. Dabei sollten Orte genau das nicht sein.

Wer träumt ihn nicht – den Traum vom eigenen Haus? Einmal alles genauso gestalten können, wie man sich das selbst vorstellt hat.

Wer durch ein Neubaugebiet der Republik fährt und die Mixtur verschiedener Bauformen in häufig gestalterisch bedenklicher Qualität betrachtet, kann die Auswirkungen dieser Träume, die Folgen der Individualisierung, beobachten. Ob Nord, ob Süd – die Bilder gleichen sich: Neben der banalisierten Bauhauskopie steht auf engstem Raum eine „Toskanavilla“, ein Klinkerbau, ein finnisches Blockhaus oder, oder, oder.

Sowohl technisch und finanziell als auch gestalterisch und stilistisch gilt hier das Motto „Nichts ist unmöglich“. Es ist ja eine Binsenweisheit, dass Bauen immer im gesellschaftlichen Kontext stattfindet und die Veränderungen der gesellschaftlichen Realität widerspiegelt. Die zunehmende Segregation der Gesellschaft geht mit einer Vielfalt und Gleichzeitigkeit verschiedener Moden einher, die Austauschbarkeit und Beliebigkeit vermittelt. Setzt sich der immer öfter artikulierte Wunsch mancher Bauherrn durch, in Zukunft ein Stück Haus wie ein Auto als fertiges Produkt mit Garantie und Festpreis zu kaufen oder zu leasen, wird die Produktion dieser Häuser daran angepasst. Großkonzerne werden dann mit verschiedenen „Designlinien“, die sorgfältig auf die jeweilige Klientel abgestimmt sind, die Märkte erobern.

Wo diese Produkte dann landen, ist beliebig, sie scheinen wie versehentlich vom Lkw gefallen zu sein, sind quasi die Verstofflichung der jeweiligen Katalogbilder ohne Bezug zur Umgebung. Räumliche Strukturen, materielle und damit wesentliche atmosphärische Qualitäten spielen dabei keine Rolle mehr und die Umgebung – der gemeinsame Raum für alle – verkommt zur „Lage“ in der Immobilienanzeige. Oft sind die favorisierten Bilder von Architektur – bewusst oder unbewusst – Projektionen von Lebensentwürfen. Wie man sich über Mode oder Ernährungsweise definiert, definiert man sich auch über die Bauhauskopie oder das Schwedenhäuschen. Hier würde ich mir wünschen, sich neu zu fokussieren: nicht nach dem Wie zu fragen, sondern nach dem Warum – hinter das Bild zu schauen sozusagen. Anstatt auf der Bildebene steckenzubleiben, könnte man sich auf alte Tugenden neu besinnen, zum Beispiel den genius loci, den „Geist des Ortes“.

Dieser Begriff bezeichnet in der Architektur die Merkmale eines Ortes, die entwurfsbestimmend sind. Jedes Grundstück wird durch seine Lage und seine Einfügung in die Umgebung sowie durch seine Atmosphäre bestimmt. Jeder Ort hat seine eigene Befindlichkeit, ist geprägt von Spuren der Nutzung und seiner Vergangenheit. Ein wirksames Konzept also gegen Beliebigkeit, Austauschbarkeit und Banalisierung, genauso wie übrigens die Wertschätzung der regionalen Baukultur.

Wilhelm Speitelsbach