„Wie die Stunde Null“

Fast jeden Tag habe man seit der Sturzflut vom Frühjahr 2016 gearbeitet, um der Schäden, die das Hochwasser angerichtet hatte, Herr zu werden, sagt Braunsbachs Bürgermeister Frank Harsch. Dennoch werde es noch etwa fünf Jahre dauern, bis alles ist, wie es mal war.

Diese Nacht ist immer noch präsent – zu jedem Augenblick, zu jeder Stunde. Die Zukunft der Gemeinde basiert auf der Sturzflut. Sie ist tagtäglich ein Thema und wird es auch lange noch bleiben.“ So fasst Braunsbachs Bürgermeister Frank Harsch das Jahrhundertereignis vom 29. Mai 2016 zusammen, als die 2500-Einwohner-Kommune von immensen Wassermassen in Schutt und Geröll verwandelt wurde. Als Menschen ihr Zuhause verloren und Opfer unerbittlicher Naturgewalt wurden. Nun, beinahe ein Jahr nach der Unwetterkatastrophe, ist der Wiederaufbau in Braunsbach in vollem Gange. Dennoch sind die Spuren der Verwüstung immer noch sichtbar: Manche Gebäude mussten abgerissen werden, an anderen fehlt der Putz oder es bröckelt Mörtel von Wänden, hier und da gibt es keine Fensterscheiben. Doch die Straßen sind geflickt, Steine und Geäst von Bäumen aus dem Weg geschafft und viele Häuser renoviert worden. „Fünf Jahre wird es etwa noch dauern, bis alles wieder so ist wie vorher“, prognostiziert Harsch. Man könne nicht nur wiederherstellen, es gingen auch Veränderungen mit den Auswirkungen der Sturzflut einher. So werden zum Teil neue Nahwärmeleitungen für öffentliche Gebäude und ein neues Feuerwehrmagazin benötigt. „Braunsbach verändert sich in allen Belangen. Wir wollen etwa ein Informationszentrum zur Sturzflut aufbauen. Der Tourismus muss schließlich auch bedient werden“, sagt der Schultheiß. Die Frage lautete stets: Was machen wir daraus? Wie Phönix aus der Asche sei Braunsbach nach dem Hochwasser wieder auferstanden, findet der Politiker. Bei den Bürgern sei hoffentlich keiner durchs Raster gefallen, meint Harsch. Weit über zwei Millionen Euro Spenden seien den Haushalten zugutegekommen. Wichtig sei aber auch gewesen, dass die Läden wieder öffnen konnten. „Als alles zu war, war es wie die Stunde Null“, erinnert sich der Bürgermeister.

Eines von vielen Geschäften, die wegen der Sturzflut schließen mussten, ist die Kochertal-Apotheke auf dem Marktplatz. Seit Oktober hat sie allerdings wieder geöffnet, weil die Schäden nicht derart verheerend waren wie in oder an manch anderem Gebäude. Genau wie Braunsbachs Bürgermeister hat auch Inhaberin Gerlinde Mayer das Geschehen aus jener verhängnisvollen Nacht noch deutlich vor ihrem inneren Auge. „Am Abend konnte man das Ausmaß noch nicht abschätzen“, erzählt die Apothekerin, die im Teilort Jungholzhausen wohnt. „Ich habe jede halbe Stunde mit meinem Kollegen telefoniert, der Notdienst hatte.“ Er habe geschildert, dass Autos vorbeischwimmen würden und das Wasser bereits im Hausgang der Apotheke stünde. Dann wurde das Geschäft evakuiert. „Es war sehr dramatisch“, weiß Mayer noch. „Aber ich durfte nicht in Schockstarre verfallen, sondern musste einen kühlen Kopf bewahren.“ Glücklicherweise war die Rößler-Apotheke in Untermünkheim, welche die Hauptapotheke und deren Inhaberin seit 1999 ebenfalls Gerlinde Mayer ist, vom Hochwasser verschont geblieben. Doch dort wurde zeitgleich renoviert. Die 49-Jährige musste sich also in der einen Apotheke um Kunden- und Mitarbeiteranliegen kümmern und ihrer täglichen Arbeit nachgehen sowie parallel in ihrer anderen Apotheke alles vom Schlamm befreien und sich mit Handwerkern abstimmen. Natürlich hatte sie Hilfe dabei. „Meine Geschwister kamen sogar von weit her und packten mit an“, sagt Mayer. „Dennoch gab es Tage, da dachte ich, die Apotheke macht nicht mehr auf.“ Ironischerweise war diese das erste Geschäft, das wieder öffnete. „Ich war allein auf weiter Flur, drumherum war ja noch alles Chaos“, erinnert sie sich. Und in Braunsbach sei es so, dass jeder Laden den anderen brauche. Rückblickend sei sie „mit einem kleinen blauen Auge davongekommen“. Gerlinde Mayer ist sich sicher: „Ich hatte Glück im Unglück.“

Das können die Inhaber des Gasthofes zum Löwen, der sich ebenfalls auf dem Marktplatz in Braunsbach befindet, nicht unbedingt behaupten. Nach den Folgen der Sturzflut konnte das Wirtshaus erst am 1. Mai dieses Jahres wieder seinen Betrieb aufnehmen. Drei Wochen vor der Eröffnung muss lediglich eingeräumt und geputzt werden. „Dann fangen wir langsam an zu produzieren, damit wir einen gewissen Grundstock haben“, sagt Heike Philipp, die den Gasthof in fünfter Generation zusammen mit ihrem Ehemann Thomas führt. Die Küchenmeisterin kann es kaum erwarten, bis wieder Gäste ihre Wirtschaft füllen. „Wir haben schon viele Tisch- und Zimmerreservierungen“, verrät die 34-Jährige. Es käme auch vor, dass Leute anriefen, die nichts von der Sturzflut wissen oder diese vergessen haben. Auf der anderen Seite hätten auch welche das Lokal bereits vor zwei Jahren für eine Konfirmation reserviert. So oder so seien alle herzlich willkommen. Was den Schaden angeht, möchte sich die Inhaberin lieber nicht äußern. „Sonst erschrecken die Leute noch“, witzelt sie. Am meisten bedauert Heike Philipp allerdings nicht den finanziellen, sondern den immateriellen Verlust. „Hier standen viele Sachen meiner Oma, die mir ans Herz gewachsen sind. Die kann ich nie mehr ersetzen.“

Olga Lechmann