„Den Realitäten ins Auge sehen“

Genau genommen sollten wir Angst haben. Uns sollte bange sein. Um unsere Rente, unsere Wirtschaft, unsere medizinische Versorgung. Und warum? Wegen des demografischen Wandels. Demografie-Experte Winfried Kösters ist überzeugt: Das Thema bekommt nicht seine verdiente Aufmerksamkeit.

Herr Kösters, wie ist es – angesichts des demografischen Wandels im ganzen Land – bestellt um die Zukunft Heilbronn-Frankens? Müssen wir uns Sorgen machen?

Kösters: Ja. Und zwar vor allem deshalb, weil die Bundestagswahlprogramme dieses Thema und seine nachhaltigen Auswirkungen noch immer eher verdrängen und nicht seiner Bedeutung entsprechend behandeln. Wer seine Zukunft gestalten will, darf keine Bange haben, die Rahmenbedingungen für diese Zukunft zur Kenntnis zu nehmen. Um es an einem Beispiel klarzumachen: Wenn die 1964 geborenen Menschen (rund 1,3 Millionen) im Jahre 2031 in Rente gehen, dann können die von ihnen eingenommenen Arbeitsplätze nur noch zur Hälfte wieder besetzt werden. Die andere Hälfte ist nicht mehr da. Die Geburtenzahl lag 2013 bei 682 069. Diese Menschen sind im Jahr 2031 gerade einmal 18 Jahre alt. Da stellen sich die Fragen: Wie organisieren wir dann unser Land? Wie sichern wir unsere Solidarsysteme? Wer macht die Arbeit, zumal viele Ältere auch keine Migranten haben wollen? Wer serviert ihnen stattdessen den Cappuccino? Heilbronn-Franken wird erst eine Zukunft erarbeiten können, wenn die Akteure der Region den Realitäten ins Auge sehen wollen, diese aber nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern auch handeln. Allerdings: Zukunft ist nicht mehr die Verlängerung der Vergangenheit.

Welche Auswirkungen/Gefahren/Risiken hatte der demografische Wandel bereits und welche wird er in den kommenden Jahren noch haben?

Kösters: Ich möchte das einmal an einem Beispiel verdeutlichen, das wahrscheinlich noch niemand bedacht hat: dem Hochwasser. Auch in 20 Jahren werden wir Hochwassersituationen erleben. Doch was heißt das für eine deutlich ältere Bevölkerung insbesondere in ländlichen Regionen? Wie rettet man Menschen mit Rollator oder Demenz? Und wer rettet sie? Denn die Helfer bei Feuerwehr, THW oder DRK werden tendenziell weniger und auch älter. Doch eines ist sicher: Das Hochwasser verschwindet auch irgendwann wieder. Aber wer repariert im Anschluss die Schäden? Welche Handwerker sind noch vor Ort, weil sie sich rechtzeitig um Nachwuchs und Nachfolger gekümmert haben? In diesen Zusammenhängen müssen wir in allen Lebensbereichen denken lernen.

Was können Politik, Wirtschaft und Bürger in Heilbronn-Franken tun, um „die Schäden“ der demografischen Entwicklung einzugrenzen?

Kösters: Ich möchte nicht von einem Schaden im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel sprechen. Wir werden neue soziale Realitäten erleben, die es bisher in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben hat. Auf diese müssen wir Antworten finden und werden es auch. Das setzt aber voraus, dass wir uns damit auseinandersetzen – jeder für sich. Denn es hat noch nie in einer Gesellschaft so viele ältere Menschen über 60 Jahre gegeben und so wenige Menschen unter 20 Jahre. Auch die weltweiten Migrationen waren noch nie kurzfristig so mobil. All das beschreibt neue soziale Realitäten, die ein „Weiter so“ nicht möglich machen. Ein Schaden wird es erst, wenn wir dies nicht zur Kenntnis nehmen wollen, weil wir an der vermeintlich guten alten Zeit festhalten. Dazu neigen ältere Menschen mehr als jüngere. Und sie haben bei jeder Wahl die strukturelle Mehrheit. Wir müssen also Überzeugungsarbeiten leisten, die für Veränderungsbereitschaft wirbt und für Veränderungen Mut macht.

Welcher Bereich steht vor den größten Herausforderungen?

Kösters: Da gibt es keinen Bereich, der sich hier besonders hervortut. Der demografische Wandel greift in jeden Lebens- und Alltagsbereich ein und verändert ihn nachhaltig. Das habe ich mit dem Beispiel Hochwasser verdeutlichen wollen. Man kann nur nicht überall gleichzeitig anfangen. Daher gilt es, Prioritäten zu setzen. Welche Bereiche sind für die Region Heilbronn-Franken besonders wichtig? Hier gilt es, anzufangen. Man sollte es aber stets in allen Bereichen mit bedenken.

Was bedeutet der demografische Wandel für Städte in der Region wie Heilbronn, was für kleine Orte mit weniger als 1000 Einwohnern?

Kösters: Das kommt darauf an. Wenn Bürgermeister und Gemeinderat im Schlaf der Vergangenheit träumen, spielt es keine Rolle, ob Stadt oder Gemeinde. Tendenziell wird es aber den Städten einfacher fallen, die Folgen des demografischen Wandels zu gestalten. Als Beispiel mag die medizinische Versorgung dienen: Die Zahl der niedergelassenen Ärzte in ländlichen Räumen wird sich weiter drastisch verringern. Das wird gerade ländliche Regionen mit einer tendenziell älteren Bevölkerungsstruktur – die diese Dienstleistungen vermehrt in Anspruch nehmen – treffen. Im Übrigen war dieses Problem seit Jahren abzusehen. Haben die Bundesländer gehandelt? Nein. Vorausschauendes Denken und Handeln findet zu wenig Raum in Politik, Verwaltung und Gesellschaft. Wir sind alle gegenwartsorientiert. Es sind auch keine Wahlkriterien der Bürger.

Welche Rolle spielt die Migration bei der demografischen Entwicklung Heilbronn-Frankens?

Kösters: Eine sehr große Rolle. Der Fachkräftebedarf der Wirtschaft kann im Wesentlichen nur durch Zuwanderung gedeckt werden. Aus eigener Kraft, sprich durch hohe Geburtenzahlen auf Dauer, wird es nicht mehr gelingen können. Hinzu kommt, dass künftig der Arbeitnehmer entscheiden wird, wo er arbeiten (und damit leben und wohnen) will – nicht mehr der Arbeitgeber. Der wiederum wird sich viel einfallen lassen müssen, um Menschen als Arbeitskräfte an sich zu binden. Die zentrale Frage lautet: Warum soll eine Fachkraft in die Region Heilbronn-Franken kommen? Diese Frage muss beantwortet werden und je mehr Akteure an einem Strang ziehen, umso besser. Und wenn die großen Unternehmen geeignete Fachkräfte finden, wie sieht es mit dem lokalen Handwerker aus? Wir können es uns gar nicht mehr erlauben, zwischen „heimischen“ und „ausländischen“ Zuwandernden zu unterscheiden. Doch Menschen aus dem Ausland kommen ungern dahin, wo sie gar nicht gewollt werden. Deswegen kommt zum Beispiel der Heilbronner Willkommenswoche eine wichtige Botschaftsfunktion zu.

Welche Aufgabe hat das Projekt „Demografische Allianz Heilbronn-Franken“ vor dem Hintergrund des demografischen Wandels?

Kösters: Diese Initiative wird sich noch als Segen für die Region herausstellen. Zum einen weil sie in nachhaltiger Form das Thema auf die Tagesordnung, insbesondere bei kleineren Kommunen, gesetzt hat. Und zum anderen weil dadurch Impulse in die Region gegeben werden. Zum Beispiel zum Zusammenhang gelingender Integration, Fachkräftebedarf der Zukunft und Demografie. Und zum dritten, weil Ergebnisse produziert werden, auf denen aufgebaut werden könnte, wenn man will.

Baden-Württemberg hat einen Demografiebeauftragten bestellt. Wie kann dieser aus Ihrer Sicht von Nutzen sein?

Kösters: Die Bestellung signalisiert nach außen, dass Baden-Württemberg die Bedeutung des Themas erkannt hat. Jetzt kommt es auf den Menschen an, der dieses Amt bekleidet. Wie brennt er für dieses Thema? Wie reist er durch das Land, um die Akteure in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft zum Handeln zu motivieren? Welche Akzente setzt er in seiner Öffentlichkeitsarbeit? Wird er mit seinem Thema überhaupt wahrgenommen? Hat er Mut und die kommunikativen Fähigkeiten, für Veränderungen zu werben? Die Tatsache, dass er kein eigenes Budget zur Verfügung hat, signalisiert allerdings auch etwas.

Interview: Olga Lechmann