„Hauptsache nicht in Selbstmitleid versinken“

„Als ich mich nach meiner Operation das erste Mal im Spiegel sah, musste ich unwillkürlich lachen“, erinnert sich Tatjana Lichtenberg. „Ich hatte im ganzen Gesicht grüne und blaue Flecken, meine Augen waren zugeschwollen und über meiner Stirn sah ich 32 Stiche, die genäht worden waren.“ Die Krankenschwester habe sie zunächst irritiert angeblickt. Doch dann musste auch sie plötzlich lachen, als die Patientin sagte: „Schauen Sie doch, wie viele schöne Frühlingsfarben ich im Gesicht habe, ich sehe doch hübsch aus.“ Lichtenberg nahm es mit Humor, dass ihr unmittelbar vorher ein 5 mal 3,5 Zentimeter großes Meningeom – ein gutartiger Tumor – aus ihrem Gehirn entfernt wurde. Anders, als mit Humor, hätte sie diesen Schicksalsschlag auch niemals so gut weggesteckt.

Tatjana Lichtenberg ist ein fröhlicher Mensch, ein freundlicher und herzensguter, der das Leben liebt. Für sie stehen ihre Kinder und ihre Enkelin sowie ihre Verwandten und Freunde immer an erster Stelle. Die 54-Jährige hat gerne ihre Lieben um sich, freut sich, wenn das Haus voll ist – voll von Lachen und Wärme. Sie nimmt sich einfach Zeit für die wichtigen Dinge im Leben. Dass sie diese heute noch mehr als früher zu schätzen weiß, liegt daran, was sie vor zehn und dann noch einmal vor fünf Jahren durchmachen musste.

Das Jahr 2008 wird die dreifache Mutter niemals in ihrem Leben vergessen können. Denn schon sein Beginn war alles andere als vielversprechend. Nachdem sie immer wieder – über Jahre und eigentlich sogar schon seit ihrer Kindheit – von Kopfschmerzen geplagt wird, die sich mit dem Alter verschlimmern und schließlich von Schwindel und Müdigkeit begleitet werden, kommt es irgendwann auch noch zu Blackouts. „Ich wusste manchmal von jetzt auf nachher gar nicht, wo ich eigentlich hin- oder was ich tun wollte“, erzählt die Spätaussiedlerin. Hin und wieder habe sie beim Autofahren als Beifahrerin Panik bekommen und hatte Angst, dass gleich etwas passieren würde. „Ich habe mich regelrecht am Griff festgeklammert.“ Ihr Mann fing daraufhin an, sich ernsthafte Sorgen zu machen und überredete sie, einen Arzt zu konsultieren. Das tat die Künzelsauerin dann auch. „Ich war bei einem Neurologen in Schwäbisch Hall, der mich untersuchte und sagte, dass ich kerngesund sei und 100 Jahre alt werden würde“, weiß Lichtenberg noch und muss schmunzeln. Damit ließ sie sich jedoch nicht abspeisen, zumal ihre Schmerzen sich häufig anfühlten, als würde ihr Kopf gleich explodieren, und beherzigte den Rat einer Kollegin, sich an einen Spezialisten in Mosbach zu wenden. Der schickte die ehemalige Lehrerin sofort ins Rohr. Das war am 18. Januar. Was dabei herauskam, war nichts Gutes. „Er zeigte mir die CT-Bilder und fragte mich, was ich sehe.“ Zuerst habe sie es überhaupt nicht verstanden, was sie auf den Aufnahmen ihres Gehirns hätte sehen sollen. Doch dann deutete der Arzt auf einen weißen Fleck und erklärte ihr, dass dieser dort nicht hingehörte.

Operation läuft glatt

Unter Schock trat Lichtenberg aus dem Sprechzimmer – und konnte ihrem Mann, der draußen gewartet hatte, erst einmal nichts von der Diagnose erzählen. „Ich starrte einfach auf den Baum vor dem Fenster.“ Auf der Heimfahrt fing sie allmählich an zu realisieren, was sie da gerade gehört hatte. „Und dann fing ich an zu weinen.“ Sie weinte fast die ganze Fahrt – weil sie das zu Hause vor den Kindern nicht tun wollte. Sie wollte für sie stark sein. „Meine Kinder haben mich in all der Zeit nie weinen sehen“, berichtet die Mitarbeiterin eines großen Hohenloher Ventilatorenherstellers. Dennoch brach für sie selbstverständlich eine Welt zusammen. „Sie waren danach bis zur Operation immer traurig.“ Ihr jüngster Sohn war damals gerade mal neun Jahre alt.

Am 8. Februar wird Lichtenberg schließlich in der Uniklinik Würzburg operiert. Der Eingriff dauert sechs Stunden und ist äußerst riskant. Es wird ein Loch in ihre Schädeldecke gebohrt, dann wird die Haut ihrer Stirn heruntergeklappt und ihr Gehirn freigelegt. „Der Tumor saß recht weit vorne“, erinnert sie sich. Er muss herausgeschlagen werden – denn er ist hart wie Stein. Zum Glück geht alles gut und die damals 44-Jährige übersteht die Operation, bis auf eine Beeinträchtigung ihres Riechnervs, sodass sie durch das rechte Nasenloch nichts mehr wahrnimmt, unbeschadet. Sukzessive schreitet die Genesung voran, am 21. Februar darf sie nach Hause. Das Leben geht weiter.

Tumor ist zurück

Dann, 2013, schlägt das Schicksal erneut zu. Bei einer der regelmäßigen Kontrollen stellt sich heraus: Der Tumor ist zurück. Diesmal sitzt er nah am Auge. „Das Meningeom wuchs schnell“, sagt Lichtenberg. Also muss es schnell raus. Wieder Uniklinik in Würzburg. Wieder Aufschneiden. Doch dieses Mal dauert die Operation nur zwei Stunden. Es wird am Augenbogen ein Schnitt gemacht und der Tumor durch die Nase herausgeholt. „Diesen zweiten Eingriff habe ich schon besser verarbeitet“, findet Lichtenberg rückblickend. Die Unterstützung durch ihren Mann und ihre Kinder, die Besuche von Familie und Freunden, die Genesungswünsche, Karten, Blumen und Anrufe haben sie in dieser schweren Zeit – sowohl beim ersten als auch beim zweiten Mal – aufgebaut und ihr Kraft gegeben. Und das wollte und will sie bis heute alles zurückgeben.

„Die Hauptsache ist, nicht in Selbstmitleid zu versinken“, ist die Kämpfernatur überzeugt. „Ich habe mir immer eingeredet, dass Gott mich nicht bestraft, sondern prüft und ob ich diese Prüfung bestehe, hängt allein von mir ab.“ Am Abend vor der ersten Operation habe sie zu Gott gebetet, er möge ihr Leben durch die Hände des Arztes, der den Eingriff vornahm, retten. Und das tat er. Zweimal.

Heute leidet Tatjana Lichtenberg immer noch unter Kopfschmerzen. „Sie sind ein Teil von mir, ich bin mit ihnen per Du“, scherzt die tapfere Frau, deren ältester Sohn sie vor einem Jahr zur Oma gemacht hat. Doch sie hat zurück ins Leben gefunden – und vor allem ihre Freude daran nicht verloren. Trotzdem muss sie weiterhin einmal im Jahr zur Kontrolle nach Mosbach. Die letzte war erst vor drei Wochen und die CT-Bilder haben nichts Auffälliges gezeigt. Lichtenberg konnte erleichtert aufatmen. Ob sie Angst habe, dass das Meningeom sich irgendwann ein drittes Mal bildet? Die gebürtige Russin nickt. Aber sie werde optimistisch bleiben. Sie ist einfach glücklich, dass sie lebt, sagt sie – und das Leben ist schön.

Olga Lechmann