Für den Mittelstand bietet der Einsatz von KI großes Potenzial. Davon ist Wolfgang Wahlster überzeugt. Im Interview erklärt einer der Gründer des DFKI, welches Potenzial er in ChatGPT sieht. Auch wenn die KI behauptet, er sei bereits 2019 verstorben.
Die Möglichkeiten von KI sind sehr umfangreich und tangieren inzwischen nahezu alle Lebensbereiche. Welche derzeitige KI-Anwendung beeindruckt und begeistert Sie derzeit am meisten?
Wolfgang Wahlster: Bei mir ist das die Sprachtechnologie, mit der ich mich seit fast 40 Jahren beschäftige. Hier war ich bei einigen Durchbrüchen auch beteiligt. So hatten wir das erste spontansprachliche Übersetzungssystem entwickelt. Mit weltweit 120 Mitarbeitern habe ich daran zehn Jahre gearbeitet. Und hier stehen wir jetzt wirklich vor einem Durchbruch: Die Systeme können die gesprochene Sprache genauso wie der Mensch etwa zu 99 Prozent akustisch verstehen. Bei Navigationssystemen klappt das sehr gut. Auch kann ich damit rund um die Uhr Kundendialoge führen, Gespräche inhaltlich zusammenfassen lassen und sie multilingual bedienen: Ich spreche auf Deutsch hinein und es kommt auf Japanisch oder Chinesisch heraus.
Das ist aber nicht die einzige KI-Anwendung, die Sie begeistert.
Wahlster: Nein. Da ist zum Zweiten die Entwicklung bei den Robotern, den sogenannten Cobots, kollaborative Roboter, die Hand in Hand mit dem Menschen zusammenarbeiten. Sie sind wie Mitarbeiter, also quasi physische Assistenten in der Fabrik.
Das Dritte ist die KI als eine Art Forschungsassistenz. Dabei wird der einzelne Wissenschaftler durch diese KI-Systeme so unterstützt, dass er weniger andere Forscher und Mitarbeiter benötigt. Eine mit geballter KI-Intelligenz ausgestattete Forscherin kann jetzt vielleicht sogar alleine den Nobelpreis gewinnen. Das Genialste in den vergangenen drei Jahren war die Lösung des Problems der Proteinfaltung durch KI. Daran hatten Wissenschaftler mehr als 20 Jahre erfolglos gearbeitet. Ein Durchbruch in der Biotechnologie, gerade für die Herstellung neuer Impfstoffe oder Antibiotika.
Und dann gibt es auch noch etwas Neues vom DKFI?
Wahlster: Ja. Auf der Grünen Woche hat das DFKI kürzlich in der Messehalle auf zwei Erdbeerfeldern seinen ersten Erdbeerpflück-Roboter vorgeführt. Das war ein großes Spektakel, das sich Kanzler Olaf Scholz und Landwirtschaftsminister Cem Özdemir sehr genau angeschaut haben. Das ist von großem Interesse für die Obstbauern, denn oft scheitert die Vermarktung von Erdbeeren an den fehlenden Erntehelfern für diesen anstrengenden Job.
Das DFKI arbeitet mit dem französischen Institut INRIA in Paris zusammen. Wo liegt aus Ihrer Sicht Deutschland im Bereich KI derzeit im Vergleich zu Frankreich und der Welt?
Wahlster: Wir sind in vielen Dingen mit Frankreich auf Augenhöhe. Die Franzosen haben auch eine lange Tradition im Bereich KI. Trotzdem ist das DFKI das weltweit größte Institut als Public Private Partnership, als öffentliches Forschungszentrum für Deutschland. Sehr gut ist das DFKI im Bereich der Robotik für schwierige Umgebungen, zum Beispiel der Unterwasserrobotik. Benötigt wird diese etwa um die Pipelines zu inspizieren oder Unterwasserminen wegzuräumen. Aufgrund der großen Tiefen und der Explosionsgefahr können Menschen diese Aufgaben nicht übernehmen.
Übrigens ist es Frankreich genauso wie Deutschland wichtig, dass KI vertrauenswürdig sein muss. Bei den Franzosen beschäftigt sich das große Forschungsprogramm „Confiance“ mit der Vertrauenswürdigkeit in KI. Wichtig ist das gerade bei medizinischen Produkten. Das Pendant dazu in Deutschland, das Zentrum „Certain“ wird vom DFKI Saarbrücken betrieben. Wir arbeiten auf vielen KI-Gebieten mit Frankreich sehr gut zusammen.
Um die Interaktion zwischen Mensch und Computer geht es auch bei ChatGPT. Inwieweit vertrauen Sie den Informationen einer KI, die Sie, auf die Frage nach Ihrem Forschungsgebiet, bereits seit Dezember 2019 für tot hält?
Wahlster: Ich kenne das Problem. Als ich Ehrenbürger der Stadt Saarbrücken wurde, hielt der Oberbürgermeister eine Ansprache und hatte einen Teil davon versuchsweise von ChatGPT schreiben lassen. Der Text war sehr gut, bis zu dem Satz „Er ist aber leider 2019 verstorben …“. Das war natürlich ein großer Lacher.
Wie kann so etwas passieren?
Wahlster: Der Hintergrund ist, dass ChatGPT auch unsichere Inferenzen zieht – man nennt das negativ Halluzinationen –, wenn es eine Frage aufgrund seiner Datenlage nicht klar beantworten kann. Dann sucht das System nach Evidenzen. 2019 war für mich ein wichtiges Datum, da ich die Geschäftsführung des DFKI an meinen Nachfolger abgegeben habe. Darüber gibt es einige Texte im Internet. Und dieses „Abgeben“, man sagt ja auch „Den Löffel abgeben“, das hat ChatGPT wahrscheinlich falsch interpretiert. Und genau das ist das Dumme: Bei ChatGPT ist man nie ganz sicher, ob das System die Intention des Textes erfasst hat, gerade wenn es um Mehrdeutigkeiten geht. Ein solcher Fehlschluss würde einer seriösen Journalistin nicht passieren, denn die prüft Behauptungen nochmals nach. Auch bei Wikipedia werden Qualität und Quellen nochmals von anderen Menschen geprüft.
Lassen sich solche Halluzinationen vermeiden?
Wahlster: Weltweit − und das gilt auch für uns am DFKI − ist man mit den jetzigen reinen Large Language Models, die nur auf neuronalen Netzen und Training mit Massendaten beruhen, noch nicht zufrieden. Gerade wegen der fehlenden Vertrauenswürdigkeit und solcher Fehler. Deshalb kombiniert man das KI-System mit einem sogenannten Wissensgraphen. Dabei handelt es sich um eine hybride KI, keine rein generative KI. Sie hat einen symbolischen und einen neuronalen Teil. Mit dem neuronalen Teil – das sind die Netzwerke mit Assoziationen, die es durch die Analyse von Massendaten erstellt – lernt das System. Zusätzlich gibt es als Kontrollinstanz im Hintergrund den Wissensgraph, der fragt: „Kann das tatsächlich wahr sein?“ Zum Beispiel lassen sich Naturgesetze natürlich nicht außer Kraft setzen.
Welche Erfahrung haben Sie damit gemacht?
Wahlster: Wir haben das am DFKI schon mehrfach erprobt und es klappt schon ganz gut. Damit lassen sich pseudokausale Lernergebnisse, bei denen das System falsche Zusammenhänge herstellt, aufdecken. Diese hybride Herangehensweise ist sehr interessant und ich glaube, das ist die Zukunft. Generative KI ist ein Fortschritt, aber sie muss mit dieser Kontrollinstanz aus symbolischem Wissen kombiniert werden.
Wie sieht im Bereich KI mit Deutschland im Vergleich zum Rest der Welt aus?
Wahlster: Einen weltweiten Vorsprung hat Deutschland auf dem Gebiet der industriellen KI, das sind die Anwendungen von KI in unseren Fabriken, bei der Produktion physischer Artikel. Nach wie vor sind wir sehr stark in der Produktion hochwertiger, hochpräziser Maschinen – vom Auto bis zur Waschmaschine. Wer auf höchste Qualität setzt und bereit ist, auch etwas mehr zu zahlen – etwa für Verpackungsmaschinen aus Baden-Württemberg – kauft selbst in Japan und China Maschinen aus Baden-Württemberg. Das Gleiche gilt etwa für Lüfter von EBM-Papst, als Weltmarktführer bei hochwertigen Ventilatoren. Industrie 4.0 wäre ohne KI gar nicht zu bewerkstelligen.
Und dann ist das noch die Sache mit dem Weltmeistertitel im Roboterfußball…
Wahlster: Zum 10. Mal sind wir 2023 in Bordeaux Weltmeister im Roboterfußball geworden. Darauf bin ich schon ein wenig stolz. Unser Team B-Human hat 76 Tore geschossen – und kein einziges Gegentor kassiert. Das spannende dabei ist, dass bei diesem Spiel nicht geschummelt werden kann, denn alle 50 Mannschaften spielen mit derselben Hardware. Das heißt, es kommt rein auf die KI-Software an. Insgesamt waren knapp 2000 Roboter im Einsatz.
In welchen KI-Bereichen sind andere Länder erfolgreicher und warum?
Wahlster: In Deutschland hat KI wenig Erfolg, wenn es um C2C geht. Da sind China und die USA besser. Der Grund ist zum einen unser zu kleiner Markt und zum anderen Europa. Uns fehlen die Consumer Mengen und für Europa müssten die Systeme an zu viele verschiedene sprachliche und juristische Gegebenheiten angepasst werden. Das lohnt sich nicht. Deshalb hat sich Deutschland auf B2B spezialisiert und ist in diesem Bereich auch weltweit führend, etwa mit SAP und anderen Firmen.
Und beim speziellen Thema Handel sorgt im KI-Sektor die Schwarz-Gruppe mit dem neuen Zentrum in Heilbronn für Furore. Das DFKI ist da auch mit dabei, da wir schon lange mit Lidl und Kaufland zusammenarbeiten. Da gibt es großes Potenzial und Deutschland kann da vielleicht wieder die erste Geige spielen, weil diese Firmen auch international erfolgreich sind.
Viele große und mittelständische Unternehmen der deutschen Wirtschaft machen sich KI bereits zunutze. Welches Potenzial sehen Sie hier für die Zukunft?
Wahlster: Bei den Großen sind es die Unternehmen im Produktionsbereich, die am häufigsten KI-Anwendungen einsetzen. Das sind große Maschinenbaufirmen – aus Baden-Württemberg etwa Bosch, ABB und ZF-Getriebe. BMW will weltweit vier neue Fabriken bauen. In denen kann von Anfang an alles KI-basiert gemacht werden. KI ermöglicht in der Fertigung eine Nullfehlerproduktion: Jeder Montageschritt wird durch KI sofort auf Fehler überprüft.
Wobei kann KI noch helfen?
Wahlster: Wir brauchen solche Systeme auch aufgrund des demografischen Wandels, denn der Fachkräftemangel wird nicht nachlassen. Da kann es helfen, die Arbeit für das Alter etwas einfacher zu machen – kognitiv und physisch –, damit die Menschen noch etwas länger arbeiten können. Zudem werden durch KI etwas weniger Fachkräfte gebraucht. Auch wird die gesamte Logistik und Intralogistik in Firmen sehr stark durch KI geprägt sein.
Wie sieht es mit den mittelständischen Unternehmen aus?
Wahlster: Für die KMUs ist es eine Riesenchance – wenn sie ergriffen wird. Die KMUs sind teilweise schon sehr weit. In Baden-Württemberg gibt es sehr gute Beispiele, etwa Wittenstein, die in Stuttgart eine Industrie-4.0-Fabrik mit KI errichtet haben. Es gibt da Pioniere. Und zum Teil können kleinere Familienunternehmen für Innovationen schneller entscheiden als große Unternehmen.
Das ist aber nicht bei allen so?
Wahlster: Leider gibt es auch genügend Mittelständler, die noch nicht verstanden haben, dass wir im digitalen Zeitalter sind. Ich schätze, dass beim Mittelstand 70 Prozent noch nicht so weit sind. Wenn ihre Datenerfassung und -verarbeitung nicht digitalisiert ist, kann man mit KI natürlich nichts machen, denn das ist die Grundvoraussetzung dafür. Aber gerade um Heilbronn herum gibt es einige KI-affine Spitzenunternehmen.
Welchen entscheidenden Unterschied kann KI für den Mittelstand machen?
Wahlster: Für die Mittelständler ist KI enorm wichtig, weil sie damit ihre Logistikketten und ihre digitale Produktionsplanung viel stärker und schneller an den Markt anpassen können. Hinzu kommt eine viel höhere Servicequalität: Selbst ein kleines Unternehmen mit 20 Mitarbeitern kann mit einem KI-System eine 24-Stunden-Hotline automatisch bedienen.
Wichtig für die KMUs ist aber auch, dass wir es mit der Regulierung nicht übertreiben – Stichwort AI-Act. Eine Überregulierung wäre für sie nicht mehr beherrschbar und finanzierbar. Es gibt einige Dinge, die man verbieten soll, aber es gibt so viele – und das sind sicherlich über 90 Prozent –, die sind völlig harmlos, da sollte man es vermeiden, die Innovation durch Regulierung auszubremsen.
In welchen Bereichen wird umgekehrt die KI den Menschen nicht ersetzen können?
Wahlster: Die Intelligenz beim Menschen untergliedert sich grob in vier Dimensionen.
Zum einen ist da die sensomotorische Intelligenz: Das ist das, was wir sehen und was wir wahrnehmen und was wir mit unseren Händen und Füßen fein umsetzen. Das braucht der Handwerker ebenso wie der Fußballer.
Bei der kognitiven Intelligenz geht es um die Analyse und Lösung komplexer Probleme, etwa beim Schach oder Go, aber auch im Alltag oder im Beruf. Hier ist die KI dem Menschen zum Teil schon heute überlegen. Beispielsweise erkennt ein Zahnarzt im Vergleich zur KI auf einem Röntgenbild durchschnittlich nur 70 Prozent der vorhandenen Karies.
Bei der sozialen Intelligenz sieht es schlecht aus für die KI. So sind Menschen, die in sozialen oder pflegerischen Berufen arbeiten, nur ganz schwer zu ersetzen. Das liegt unter anderem daran, dass KI-Systeme und speziell Roboter meist sehr egozentrisch sind, da diese nicht wie der Mensch in der Familie sozialisiert werden.
Und was die emotionale Intelligenz betrifft: Ein KI-System kann Emotionen eines Menschen zwar erkennen, vielleicht an der Stimmlage oder Sprechgeschwindigkeit, das hat aber nichts mit emotionaler Intelligenz im eigentlichen Sinne zu tun. Da Emotionen im menschlichen Gehirn aber durch die Chemie der Hormone gesteuert werden, die es beim Computer nicht gibt, ist die KI nicht zu einer menschenähnlichen Emotionsverarbeitung in der Lage. Es gibt also Einschränkungen, was man mit KI machen kann – und das ist auch gut so. Das zeigt nämlich, dass KI auch längerfristig den Menschen nicht komplett ersetzen kann.
Wird KI uns Menschen dabei helfen können, unsere großen Probleme zu lösen, etwa bei der Mobilität oder der Energieversorgung? Und wie müssten wir dann jetzt vorgehen?
Wahlster: Es gibt schon große Bemühungen. Wir haben ja allein auf Bundesebene drei Ministerien, die sich damit beschäftigen – das BMBF für Forschung und Technologie, das Bundesministerium für Wirtschaft und Klima, dann das BMDV für Datenverarbeitung und Verkehr. Diese drei Ministerien haben ja eine KI-Strategie und einen Aktionsplan aufgestellt und geben schon eine ganze Menge Geld aus für Projekte in dieser Richtung.
Wir beschäftigen uns am DFKI Saarbrücken schon seit vielen Jahren mit lernenden Energieversorgungssystemen. Dabei lernt das System auch, wie Lastspitzen vermieden werden können und weniger Energie so geschickt verteilt werden kann, dass trotzdem alle Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigt werden. Mit unseren bisherigen Systemen sind solche Abstimmungen kaum möglich, das kommt jetzt peu à peu mit den Smart Grids. Die großen Energiekonzerne haben das Problem erkannt. Ich bin optimistisch, dass wir in Deutschland in den nächsten Jahren ein intelligentes Energienetz bekommen. Auch werden wir durch KI erheblich ressourcenschonender. Auch wird ohne KI und Unterwasserrobotik kaum erneuerbare Energiegewinnung möglich sein, etwa beim Bau und der Wartung von Windkraftwerken auf dem Meer. Und bei der Mobilität haben beispielsweise wir bei der Bahn derzeit eine zu veraltete Infrastruktur. Intelligente, fahrerlose Züge mit eigener Sensorik können viel dichter auffahren und damit die bestehenden Schienennetze viel besser nutzen. Allein kann die KI das Alles nicht bewerkstelligen, aber sie ist ein wichtiger Baustein, um die Klimawende und auch die Mobilitätswende, zu ermöglichen.
Interview Birgit Kalbacher
Zur Person
Professor Wolfgang Wahlster gehört zu den prägenden Köpfen der Forschung zu Künstlicher Intelligenz in Europa. Er ist Gründungsdirektor und war bis 2019 CEO des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI). Wahlster ist unter anderem Mitglied der königlich-schwedischen Nobelpreis-Akademie in Stockholm und der Deutschen Nationalakademie Leopoldina. Seit 2019 ist er Chefberater der DFKI-Geschäftsführung.