Wie ein Familientreffen

Mit der Familie zusammenzusein, ist etwas Schönes. Doch seinen Bruder, seinen Onkel oder die Schwiegermutter täglich zu sehen, muss für die meisten nicht unbedingt sein. Wie ist es aber, mit seiner eigenen Schwester Tag für Tag Seite an Seite zu arbeiten?

Wir haben einfach Arbeit gesucht“, sagt Maria Possewnin. „Wir wollten dem Staat nicht auf der Tasche liegen“, ergänzt Tatjana Lichtenberg. Die Künzelsauerinnen sind mit ihren Familien Anfang der 90er Jahre als sogenannte Spätaussiedler nach Deutschland ausgewandert. Um nicht von der Sozialhilfe abhängig zu sein und weil sie es von Russland, ihrer Heimat, gewohnt waren, immer für ihr Geld zu arbeiten, haben sich die beiden Schwestern sofort auf die Suche nach Jobs begeben – im Umkreis von zehn bis 15 Kilometern von ihrem damaligen und heutigen Wohnort Taläcker, einem Teilort Künzelsaus.

„Die meisten Firmen hatten keinen Bedarf“, erinnert sich Possewnin ans „Klinkenputzen“. Doch ein Unternehmen wies die ehemaligen Lehrerinnen, deren Diplome in Deutschland nicht anerkannt wurden, nicht ab – der Ventilatoren- und Motorenhersteller Ziehl-Abegg. „Mein Mann und unser Bruder waren die Ersten aus unserer Familie, die beim Ziehl einen Platz bekommen haben“, weiß Lichtenberg noch ganz genau. 1994 war das. Heute arbeiten noch viel mehr Familienmitglieder dort. „Die Firma hat damals schon gerne Ehepaare eingestellt“, erzählt die 53-Jährige. Also wurde sie auch bereits einen Tag, nachdem sie die Bewerbung ausgefüllt hatte, zum Vorstellungsgespräch eingeladen. „Am Montag darauf habe ich in der Vormontage angefangen, die damals noch in Künzelsau war“, kann sich die dreifache Mutter und Großmutter einer Enkelin entsinnen. Sie war zwar froh über die Stelle, wollte aber eigentlich nur für kurze Zeit bei dem 1910 gegründeten Familienunternehmen bleiben, lieber Sprachkurse geben oder Ähnliches.

Beinahe 23 Jahre später arbeitet Lichtenberg immer noch bei Ziehl-Abegg, nun allerdings in einer anderen Abteilung – der Regeltechnik, wo Platinen vorgerichtet, bestückt und geprüft werden. Genau dort geht auch Possewnin, die Mutter einer 28-jährigen Tochter ist, seit nunmehr 20 Jahren von Montag bis Freitag hin, um ihre Brötchen zu verdienen. Weil ihre Schwester nach ihrem Erziehungsurlaub von 1998 bis 2001 wieder bei Ziehl-Abegg einsteigen wollte, fragte Possewnin bei ihrem Vorgesetzten nach, ob diese nicht das Bestückerinnen-Team ergänzen könne. Es sprach nichts dagegen, schließlich ging es um die Familie – und diese wird beim Ventilatorenbauer großgeschrieben, was auch die Geschäftsführung zum Ausdruck bringt. „Wir freuen uns, wenn Mitarbeiter ihren Angehörigen empfehlen, bei uns zu arbeiten. Das spricht von sich aus für das Arbeitsklima und das Arbeitsumfeld“, ist etwa Peter Fenkl, Vorstandsvorsitzender von Ziehl-Abegg, überzeugt.

Seit 16 Jahren arbeiten Maria Possewnin und Tatjana Lichtenberg nun schon in derselben Abteilung, ja sogar Seite an Seite. Von Anfang an sitzen sie fünfmal die Woche beim Bestücken ihrer diversen Platinen nebeneinander – und gehen sich nicht auf die Nerven. Und wenn doch, „dann sind wir einfach still“, sind sich die beiden einig. Aber meistens haben die zwei viel zu bereden – vor allem nach dem Wochenende oder den Oster-, Pfingst-, Sommer- und Weihnachtsurlauben, die sie ja getrennt voneinander verbringen – und noch mehr zu lachen; hat irgendwie was von Familientreffen. Auch die Mittagspausen werden selbstverständlich gemeinsam verbracht. Und immer, wenn es nicht in Strömen regnet, gehen die beiden zu Fuß von Taläcker nach Künzelsau zur Arbeit. „Es ist schon wie eine Nabelschnur zwischen uns“, sagt Lichtenberg, blickt zu ihrer fünf Jahre älteren Schwester und muss laut loslachen.

Davor, dass diese mit Possewnins Renteneintritt durchtrennt wird, graut es den beiden jetzt schon. Für andere hingegen ist es unvorstellbar, mit ihrer Schwester Tag für Tag, Jahr ein, Jahr aus zusammenzuarbeiten. „Eine ehemalige Kollegin meinte mal zu mir: ‚Du willst wirklich mit deiner Schwester zusammenarbeiten? Ich könnte das nicht! Wir würden uns an die Gurgel gehen‘“, plaudert Lichtenberg aus dem Nähkästchen. Dass das bei den beiden Ziehl-Abegg-Mitarbeiterinnen geschieht, ist eher unwahrscheinlich. Maria Possewnin und Tatjana Lichtenberg sind dankbar, dass ihnen der hohenlohische Ventilatorenhersteller eine Chance gegeben hat. Eine Chance, sich in einem für sie damals fremden Land eine Zukunft aufzubauen – für sich und ihre Familien.

Olga Lechmann

Ziehl-Abegg

Der Ventilatoren- und Motorenhersteller Ziehl-Abegg SE mit Stammsitz in Künzelsau wurde im Jahre 1910 von Emil Ziehl gegründet. Das Unternehmen beschäftigt aktuell 3550 Mitarbeiter und erwirtschaftete 2016 einen Umsatz von 484 Millionen Euro. Vorstandsvorsitzender ist Peter Fenkl.