„Wir sitzen auf einem Goldschatz“

Sie haben ein KI-Festival organisiert, das Mitte Juli im Zukunftspark in Heilbronn stattfand: Sven Körner, Geschäftsführer von Things Thinking (rechts) und Thomas Bornheim, Geschäftsführer der Programmierschule 42. Foto: Dirk Täuber

Viele Unternehmen sitzen auf einem Berg von Daten – doch ohne Künstliche Intelligenz können sie diese nicht effektiv und sinnvoll nutzen. KI-Experte Sven Körner sieht hier enormes Potenzial für Wertschöpfung. Sein Tipp: Einfach mal machen.

Für Normalsterbliche ist der Hype um KI sowas wie Science-Fiction. Mal ehrlich: Was kann sie leisten, was nicht?

Sven Körner: Was eine KI nicht kann, auch wenn es manchmal so wirkt, ist kreativ zu sein und ganz neue Dinge zu erschaffen. KIs lernen aus Daten aus der Vergangenheit. Aber die Idee, dass man aus der Vergangenheit auf die Zukunft projizieren kann, ist hinreichend falsch. Das lehrt uns die Geschichte der Menschheit. Würde das funktionieren, hätten wir alle schon viel mehr erreicht. Was eine KI kann, ist – salopp formuliert – Muster erkennen. Das kann sie teilweise besser als Menschen, aber vor allem schneller.

Haben Sie ein Beispiel?

Körner: Nehmen wir mal an, jemand hat tausende Videos und möchte wissen, ob darin eine Katze vorkommt: Das kann eine KI in wenigen Minuten analysieren. Menschen bräuchten Monate dafür. Unser Problem ist Entropie. Wir haben zu viele Daten, die realistisch betrachtet gar keine Information sind, weil wir sie nicht verarbeiten können. Wir können inzwischen Unmengen an Daten speichern, aber wir können aus ihnen keinen effektiven Nutzen ziehen, weil wir sie entweder nicht mehr finden oder überhaupt nicht wissen, was wir damit anfangen sollen. Es gibt Firmen, die über enorme Datenmengen verfügen, aber dennoch das selbe Bauteil ein paar Mal neu entwickeln und bauen, weil sie gar nicht mehr wissen, dass sie es schon längst haben. Da kann KI helfen.

Also dient KI vor allem als Werkzeug, um mit riesengroßen Datenmengen klarzukommen?

Körner: Genau – und welches Potenzial in diesen Datenmengen schlummert, ist uns oft überhaupt nicht bewusst. Sind wir ehrlich: Heute werden 90 Prozent der KIs dazu verwendet, bessere Werbung anzuzeigen oder Vorschläge zu unterbreiten, was man auf Streamingportalen als nächstes schauen könnte. Doch wirtschaftlich wirklich spannend sind ganz andere Bereiche: Was das Potenzial von KI mit Blick auf die industrielle Produktion anbetrifft, sitzen wir in Deutschland auf einem Goldschatz. Leider haben wir das noch nicht realisiert, denn diejenigen, die den Goldschatz haben, wissen das nicht, weil sie sich – überspitzt formuliert – gerade erst ein neues Faxgerät gekauft haben. Das ist die Diskrepanz, unter der wir leiden. Daher haben wir auch das KI-Festival ins Leben gerufen, um Menschen, Unternehmen und Institutionen dazu zu animieren, sich mit KI auseinanderzusetzen und auszuprobieren, wie ihnen die Technologie weiterhelfen könnte. Das ist die Idee: Einfach mal machen.

Und wie funktioniert das konkret?

Körner: Im Rahmen des KI-Festivals haben wir verschiedene „AI for real“-Projekte angestoßen, bei denen die Teilnehmer direkt testen können, was eine KI für sie leisten kann. Und mein Liebling ist seither die Stadt Heilbronn, die nun mit KI den Postprozess in der Verwaltung deutlich verbessert. Bisher hat es nämlich sehr viel Zeit gekostet, bis eingehende Briefe und Dokumente in Papierform auf den richtigen Schreibtischen landeten. Teilweise musste die Hauspost sogar quer durch die Stadt in andere Ämter transportiert werden. Wir haben in einem Testlauf hunderte Dokumente automatisiert eingescannt und die KI hat nur 15 Millisekunden gebraucht, die digitalisierte Korrespondenz den jeweiligen Adressaten in der Verwaltung zuzustellen. Eine enorme Zeitersparnis – das kann KI. Sie ist ein hervorragendes Werkzeug, um Prozesse zu beschleunigen.

Wie trainiert man eine KI, damit sie die gewünschten Aufgaben erfüllt?

Körner: Das kommt darauf an, welche Daten man verarbeiten will. Im Grunde füttert man sie so lange mit Beispielen, bis die KI das zugrundeliegende Muster sicher erkennt. Früher hat meist der Mensch der KI vorgegeben, was auf Bildern oder Videos zu sehen ist beziehungsweise was sie erkennen soll. Aber seit ein paar Jahren ist das sogenannten „unsupervised learning“ en vogue, sprich das Trainieren von KI ohne menschlichen Eingriff. Standard sind mittlerweile auch multimodale Modelle, die Text, Audio, Video und Bild gleichzeitig verarbeiten können. Da sind wir algorithmisch inzwischen einen echten Schritt weitergekommen. Der große Wunsch von uns in der KI-Forschung ist, dass wir irgendwann einen Algorithmus haben, der mit allem klarkommt, mit dem man ihn füttert – ähnlich wie ein menschliches Gehirn.

Ist es das Ziel, einer KI menschliche Eigenschaften zu verleihen?

Körner: Nein – zumindest sollte es das aus meiner Sicht nicht sein. Natürlich neigen wir dazu, Dinge zu vermenschlichen. Wenn man sieht, wie kleine Kinder mit einer Alexa sprechen, dann behandeln sie die Maschine durchaus wie ein lebendiges Wesen. Dabei ist das einer der billigsten Musteralgorithmen, die es aktuell gibt, der aber gut funktioniert und zuverlässig den gewünschten Song abspielt. Das finde ich gar nicht schlimm. Was wir aber nicht tun sollten, ist menschliche Herangehensweisen im KI-Bereich nachzuahmen und zu optimieren. Quasi einen besseren virtuellen Menschen zu erschaffen, halte ich für Blödsinn. KI ist nur ein Werkzeug und sollte als solches betrachtet werden. Um es effektiv zu nutzen, müssen wir daher Vorgänge und Prozesse signifikant anders denken und uns fragen, wie dieses Tool bestehende Probleme für uns am effizientesten lösen könnte. Wir sollten also nicht einen siebenstufigen Klemmbrettprozess digitalisieren, wie das manche Unternehmen tun. Wenn man einen schlechten Prozess digitalisiert, kommt eben ein schlechter digitaler Prozess dabei heraus. Wir müssen den Mut haben, anders zu denken und neue Herangehensweisen zu finden. Dann kann uns KI einen echten Vorteil und Erkenntnisgewinn bringen.

Kann KI grundsätzlich jedem Unternehmen von Nutzen sein?

Körner: Ich glaube tatsächlich, dass jedes Unternehmen davon profitieren kann, auch wenn wir aus unserer Techie-Sicht die Use-Cases noch nicht kennen. Wir haben Kunden, die Dinge mit unserer KI machen, auf die wir selbst nie gekommen wären. Unsere KI-Lösung „semantha“ haben wir zur Dokumentenverwaltung für Unternehmen entwickelt, die üblicherweise mit großen Mengen an Texten oder Vertragsklauseln arbeiten, etwa Banken, Versicherungen oder Anwaltskanzleien. Sie dient dazu, Themen und Textpassagen schnell und sicher zu finden. Wir haben inzwischen aber auch Kunden, die unsere Systeme im Personalwesen einsetzen, weil sie sagen: Den perfekten Bewerber gibt es nicht. Sie haben Job Descriptions von denen, die sie versuchen, zu erreichen. Und sie haben Leute, die sich anbieten. Obwohl deren Lebenslauf und Kenntnisse nicht direkt mit den Anforderungen, übereinstimmen, weil da ganz andere Begriffe stehen, könnten sie dennoch für den Job geeignet sein. Das zu erkennen, ist angesichts des Fachkräftemangels ein Riesen-Use-Case. Bei hunderten offenen Stellen und mehreren Bewerbungen auf diese Stellen kann eine Personalabteilung dieses schlummernde Potenzial gar nicht heben, selbst wenn sie wollte. Eine KI kann das aber – und zwar in 0,2 Sekunden.

Brauchen Firmen also nur den Mut, sich auf KI-Technologie einzulassen?

Körner: Ja, denn die wahre Dynamik entsteht tatsächlich erst dann, wenn Domänenfachleute KI-Technik ausprobieren und für sich nutzen – so wie hier im Rahmen des KI-Festivals. Auf einmal entstehen Wertschöpfungsketten, die nur die jeweiligen Fachleute richtig einschätzen können. Und wenn die Stadt Heilbronn innerhalb von zwei Tagen eine KI implementieren und ihren Postprozess optimieren kann, dann können das andere auch.

Was entgegnen Sie denjenigen, die nach wie vor skeptisch sind?

Körner: Ohne KI werden Unternehmen in ein paar Jahren nicht mehr wettbewerbsfähig sein. Ob man das selber nun will oder nicht, Mitbewerber rund um den Globus werden die Technologie nutzen. Daher darf man das nicht zu weit von sich wegschieben. In unseren Keynotes sagen wir immer: Du magst heute nicht in der Softwarebranche sein. Aber gehe bitte davon aus, dass mittelfristig eine Softwarefirma in deiner Branche tätig sein wird. Das ist der Punkt.

Interview: Dirk Täuber

Zur Person:

Dr. Sven J. Körner ist Experte für Künstliche Intelligenz und Geschäftsführer von Things Thinking.