Herausforderungen und Lösungen für Heilbronn-Franken

Friedlinde Gurr-Hirsch übernahm 2020 den Posten als Vorsitzende von Jochen Kübler, Oberbürgermeister a.D. Foto: pro Region

Fachkräftemangel, Wohnungsmangel und Verkehrschaos sind einige der Themen, die die Vorsitzende von pro Region, Friedlinde Gurr-Hirsch, angehen möchte. Im Interview spricht sie über aktuelle Herausforderungen und Lösungen für die Region Heilbronn-Franken.

Wir stehen vor immensen Herausforderungen. Treten angesichts der aktuellen Krisensituation regionale Belange in den Hintergrund?

Friedlinde Gurr-Hirsch: Nein, im Gegenteil. Um Lösungen für bestehende Probleme zu finden und umzusetzen, müssen wir lokal ansetzen. Nehmen wir Klima und Energie. Hier ist jede Gemeinde, jeder einzelne Haushalt gefordert, sich neu auszurichten. Nur dann kann eine Bundespolitik, eine europäische Politik oder eine Weltklimavereinbarung wirksam werden.

Wie beurteilen Sie das Entlastungspaket, das von der Bundesregierung geschnürt wurde?

Gurr-Hirsch: Es sind Eckpunkte gesetzt worden und ich glaube, dass diese versuchen, die Schwäche der vorangegangenen Pakete auszugleichen. Vor allen Dingen die Problematik der sozial schwächeren Menschen. Beim Thema Verkehrssteuerung muss ein Akzent gesetzt werden, denn das Neun­-
Euro-Ticket hat nicht das gebracht, was man sich erhofft hat. Wichtig beim Thema ÖPNV wäre, dass sich die Verbünde untereinander anerkennen. Das ist eine große Schwäche in Baden-Württemberg. Wenn viele Menschen auf den ÖPNV umsteigen oder mehr Fahrgemeinschaften bilden würden, hätten wir weniger Pkw auf den Straßen. Dann bleibt das große Thema der Lkw. Da müssen wir auch in der Wirtschaft umdenken.

Inwiefern?

Gurr-Hirsch: Die Tendenz der letzten 30 bis 40 Jahre, immer mehr in andere Erdteile auszugliedern, macht uns Probleme. Das mussten wir seit Ausbruch der Coronapandemie schmerzlich erfahren. Global zu arbeitsteilig zu sein, birgt Risiken, wie man an den gestörten Lieferketten sieht. Wir sollten wieder im Ländle und in Europa wichtige Dinge fertigen. Bei der Produktion von Automobilen, ja sogar bei Küchen, hängt derzeit vieles an Kleinteilen, die vermeintlich günstig in anderen Teilen der Welt produziert wurden. Das reicht bis hin zur Medizin.

Müssen wir auch bei der Energieproduktion stärker umstellen und autarker werden?

Gurr-Hirsch: Ja. Vor allem hat man seitens der Politik in den frühen 2000er Jahren so gehandelt, dass man in Richtung Monopolisierung und Abhängigkeit ging, Stichwort Gazprom und Uniper. Diese Energiegiganten haben wiederum die Stadtwerke beliefert, von denen viele bereits Hilferufe an den Bund schicken, weil sie die Kosten nicht mehr stemmen können. Wobei die Politik von Städten und Gemeinden, eigene Stadtwerke zu etablieren, grundsätzlich sehr gut ist, da sie so mehr Einfluss- und Steuermöglichkeiten haben.

Welche Auswirkungen bestehen für die Region angesichts Energiekrise und bestehender Lieferkettenproblematik?

Gurr-Hirsch: Wir haben zwar eine gewisse Automobilabhängigkeit, sind aber im industriellen Sektor sehr stark und breit aufgestellt, im Gegensatz zu anderen Bundesländern. Was mir Sorge bereitet ist der Fach­kräfteman­gel, der immer stärker durchschlägt, ob im Handwerk, in der Dienstleistung oder im Pflegebereich. Da müssen wir Lösungen finden. Ich habe schon vor 20 Jahren gefordert, dass wir ein Zuwanderungsgesetz benötigen, das genau vorgibt, welche Fertigkeiten Menschen haben sollten, die bei uns leben und arbeiten wollen. Und was mich auch immer wieder besorgt, ist, dass die Frauen in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern vorrangig in Teilzeit arbeiten. Eine ganz wichtige Zielgruppe sehe ich auch in Migrantinnen, insbesondere aus der Türkei. Es gibt viele Arbeitsgebiete, in denen Tätigkeiten ohne abgeschlossene Berufsausbildung mit einer gewissen Qualifizierung aufgenommen werden können, etwa in der Dienstleistung oder der Betreuung.

In welchen Bereichen erwarten Sie negative Auswirkungen mit Blick auf die aktuelle Energiesituation?

Gurr-Hirsch: Negative Auswirkungen erwarte ich bei energieintensiven Branchen. Es sind nicht nur Industriebetriebe wie Verzinkereien, bei denen sehr viel Energie benötigt wird. Auch bei Bäckereien ist die Situation sehr angespannt. Wir werden sicherlich bei den öffentlichen Haushalten sparen, eventuell Einrichtungen wie Schwimmbäder schließen müssen. Ich mache mir da schon Gedanken, was man einer Gemeinschaft noch zumuten kann. Wir wissen nicht, wie der Winter und die Situation in den Schulen sein wird.

Was erhoffen Sie sich von Bund und Land, um den Wirtschaftsstandort in der kommenden Zeit zu stützen?

Gurr-Hirsch: Auf jeden Fall muss generell gelten, dass Branchen die darben, Hilfsangebote erhalten. Das gab es bereits in der Coronazeit und es ist nicht immer rund gelaufen. Und dann muss natürlich auch in den Branchen, in denen vielleicht Aufträge einbrechen, geholfen werden. Im Bau läuft es noch sehr gut, aber man sieht bereits, dass viele Bauwillige aussteigen, weil die Kosten innerhalb von wenigen Monaten um 30 Prozent gestiegen sind. Auch die Leitzinsen wurden erhöht, was sich auf Finanzierungen auswirkt. Es ist zu befürchten, dass im Handwerk Aufträge zurückgehen. Dann gilt nach John Maynard Keynes, dass „deficit spending“ angezeigt ist.

Wo sehen Sie Lösungsansätze auf regionaler Ebene, um die Auswirkungen der Krise abzufedern?

Gurr-Hirsch: Ich denke, dass wir insgesamt nicht nur die Krise im Blick haben müssen, sondern auch die Transformation, die bereits zuvor begonnen hat. Da gilt es bei uns festzustellen: Die Region ist zu stark vom Automobil abhängig, vor allem immer noch von der Verbrennertechnologie. Ich denke unser Ansatz mit dem Bündnis für Transformation, das diesen Wandel begleitet und gestaltet, ist der richtige. Wir haben zudem Glück, dass die Region ein KI-Standort in Baden-Württemberg geworden ist und wir die Menschen auf diesem Gebiet qualifizieren können.

Auf welche Zukunftstechnologien müssen wir in der Region verstärkt setzen?

Gurr-Hirsch: Wir haben bereits Kernzellen in der Region Heilbronn-Franken, Hubs, in denen viel Antrieb und Knowhow vorhanden ist. Auch Dinge wie Coworking Spaces haben wir genug in der Region. Angesichts der Gegebenheiten, Verkehrsproblematik, teure Energie, Erfahrungen mit Homeoffice, müssen wir den ländlichen Raum als idealen Raum für junge Leute präsentieren. Das wollen wir mit einer Veranstaltung am 11. November tun, bei der es darum geht, wie der neue Landesentwicklungsplan aufgestellt werden soll und welche Rolle da unserer Region zukommen kann.

Das steht und fällt mit Gigabitnetzen. Werden diese schnell genug ausgebaut?

Gurr-Hirsch: Da haben wir in der Vergangenheit einfach gepennt. Jetzt durch die Giganetz-Initiative der WHF geht es endlich voran. Ich bin froh,
dass WHF-Geschäftsführer Andreas Schumm es geschafft hat, viele Kommunen mitzunehmen.

Wie kann die Region jetzt besonders eng zusammenstehen, um die Herausforderungen zu bewältigen?

Gurr-Hirsch: Wir hatten immer dann den größten Zusammenhalt, wenn eine Not da war. Durch die drei K – Krankheit (Corona), Klima, Krieg – gibt es eigentlich genug Möglichkeiten, jeden Einzelnen mitzunehmen. In meiner Zeit als Staatsekretärin habe ich die Initiative „Grenzenlos nachhaltig“ gestartet. Ich hoffe, dass wir bei der Veranstaltung im November, wenn unsere 111 Gemeinden vertreten sind, dieses Thema setzen können. Klimamanager könnten ein Netzwerk initiieren. Mit dem Thema wächst auch die Identität.

In verschiedenen Netzwerken wird regionsweit kooperiert. Wie sollte aus Ihrer Sicht die regionale Zusammenarbeit verbessert werden? Das Kirchturmdenken ist ja noch nicht ganz weg, oder?

Gurr-Hirsch: Das ist nicht nur in unserer Region ein Problem. Ich bin froh darüber, dass es gelungen ist, die Wirtschaftsförderung in Heilbronn-Franken zu stärken. Ich würde mir aber ein deutliches Zeichen seitens der IHK wünschen, dass sie bei der WHF wieder mitwirkt. Wir brauchen eine regionale Wirtschaftsförderung und sie hat ja auch bereits Erfolge eingefahren. Es ist eine tolle Sache, dass das Packaging Valley konzentriert angegangen wird.

Was kann die Bürgerinitiative tun, um dabei zu unterstützen?

Gurr-Hirsch: Wir können Problembewusstsein wecken, denn die wichtigen Themen der Region sind noch nicht in allen Köpfen. Wir machen Veranstaltungen und Workshops, die Impulse und Input geben, schaffen Plattformen für Diskussionen. Darüber hinaus wollen wir Netzwerke in der Region bilden und die Themen weiter begleiten.

Welche Impulse haben Sie aus den regionsweiten Podiumsdiskussionen im Jubiläumsjahr mitgenommen?

Gurr-Hirsch: Wir müssen die Themen Fachkräftemangel, Wohnungsmangel und Verkehr noch stärker auf die Agenda setzen und vorantreiben. Dem Thema Fachkräfte widmen wir uns bei der kommenden Regionaltafel. Das Thema Wohnung beleuchten wir indirekt im November. Hierbei gilt es zu überlegen, wie man Menschen, die leerstehende Wohnungen besitzen, überzeugen kann, diese zu vermieten. Und auch beim Verkehr müssen wir alle Register ziehen, vom schleppenden Ausbau der A6 bis zu einem neuen Schleusenkonzept für den Neckar, um mehr Transporte von der Straße auf den Wasserweg zu verlagern.

Welche neuen Projekte möchten Sie in absehbarer Zeit anstoßen?

Gurr-Hirsch: Das Thema Tourismus ist noch wichtig. Das werden wir im kommenden Jahr mit Aktionen wie Radtouren anstoßen. Auch in Stuttgart möchte man das nördliche Baden-Württemberg stärker zusammenführen und bei Tourismusmessen wie der CMT besser darstellen. Wir denken, dass die Energie- und Klimakrise den Nahtourismus stärken wird. Insgesamt wollen wir natürlich auch den ländlichen Raum durch unsere Veranstaltungen stärken.

Krisen bergen auch immer Chancen. Welche Chancen gibt es für die Region?

Gurr-Hirsch: Da wir ziemlich automobillastig sind und uns durch die Transformation gezwungenermaßen neu aufstellen müssen, besteht die Möglichkeit, dass wir bei zukunftsweisenden, neuen Technologien die Nase vorn haben können. Auch bei Themen wie KI. Wir können Startups haben, die Neues generieren. Dafür müssen die MINT-Themen in den Schulen verstärkt werden. Doch da wir gezwungen sind, uns neu zu orientieren, haben wir gute Chancen, uns insgesamt zukunftsfest aufzustellen.

Interview: Beatrix Drescher/ Dirk Täuber

 

Zur Person:
Friedlinde Gurr-Hirsch wurde 1954 in Untergruppenbach geboren. Sie war von 2001 bis 2021 Abgeordnete im Landtag von Baden-Württemberg, außerdem von 2004 bis 2011 und von 2016 bis 2021 Politische Staatssekretärin im Ministerium für Ernährung und Ländlichen Raum. Zwischenzeitlich war sie stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU Landtagsfraktion. Seit 2020 ist sie Vorsitzende der Bürgerinitiative pro Region.