Mehr als die Hälfte ihres Umsatzes generiert die Otto Group online. Dabei gilt für das Internetversandhaus, Bewährtes zu bewahren und um Neues zu ergänzen. Entscheidend sei, die Bedürfnisse des Menschen in den Mittelpunkt des Handelns zu stellen.
Die Wirtschaft in Deutschland steht vor der großen Herausforderung, sich rasch auf gewaltige Umbrüche einzustellen. Das Internet und insbesondere das Smartphone prägen heute die Art, wie wir uns informieren, wie wir miteinander kommunizieren und wie wir konsumieren. Die Otto Group hat das bereits früh erkannt. Schon vor 20 Jahren haben wir ins Internet investiert und sind im Online-Handel inzwischen mit über 100 Verkaufsseiten und einem Umsatz von fast sieben Milliarden Euro weltweit die Nummer fünf. Der einstige „Otto Versand“ ist mittlerweile eine Handels- und Dienstleistungsgruppe mit 123 Unternehmen in rund 30 Ländern.
Doch auch diese starke Marktposition verspricht keine Sicherheit mehr. Denn auch etablierte Unternehmen sehen sich heute völlig veränderten Kundenerwartungen gegenüber. Und hoch digitalisierte, extrem schnelle und mit viel Kapital ausgestattete Wettbewerber verstehen es oftmals viel besser, Kundenbedürfnisse im digitalen Zeitalter zu bedienen.
Der digitale Wandel verlangt von uns allen die bedingungslose Fokussierung auf die Kundenbedürfnisse, zu Neudeutsch die „Customer-Centricity“. Das stellt insbesondere Unternehmen mit langer Tradition vor große Herausforderungen. Um diese zu meistern, bedarf es nicht nur der Schaffung der notwendigen technologischen Voraussetzungen. Die Unternehmen müssen zudem einen grundlegenden Wandel in der Unternehmenskultur vollziehen, denn die neue Welt der Wirtschaft – die Welt der Daten, der Netzwerke, der Apps und der Roboter – erfordert vor allem eines: die Bereitschaft zu neuem Denken.
Veränderungen sind keine Frage des Alters und der Tradition der Unternehmen, sondern der Agilität und der Innovationsbereitschaft, der Haltung der Unternehmensführung und der Mitarbeiter, ihrer Offenheit für Neues und ihres Vertrauens darauf, dass sich Dinge trotz des zunehmenden Kontrollverlustes gut entwickeln können, wenn man lernt, loszulassen und dabei auf die Regulierung der Kräfte untereinander und den Bestand des werteorientierten Handelns zu vertrauen.
In der Otto Group haben wir dazu im Jahr 2015 einen Prozess in Gang gebracht, den wir „Kulturwandel 4.0“ nennen. Er ist in erster Linie ein Wandel im Umgang mit den Mitarbeitern hin zu einer hierarchieunabhängigeren und mehr an den individuellen Stärken des Einzelnen ausgerichteten Zusammenarbeit. Dazu gehört, die Qualitäten der jungen Generation ebenso zu schätzen und einzusetzen wie auch die Stärken der erfahreneren Mitarbeiter. Denn für die anstehenden Aufgaben im digitalen Wandel brauchen wir beides: einerseits gut ausgebildete, technikaffine und überdurchschnittlich motivierte Digitalkräfte, die unverfroren, unerschrocken und unkonventionell sind und darin aufgehen, das jeweilige Unternehmen im E-Commerce voranzutreiben. Andererseits erfahrene Mitarbeiter, die bereit sind, teamorientiert zu arbeiten, Stärken zu fördern, junge Menschen zu motivieren und zu befähigen, Ideen zu entwickeln und eigenverantwortlich umzusetzen.
Anders als Start-Ups das tun können, setzen wir außerdem weiterhin auf ein „werthaltiges Wachstum“ im wahrsten Sinne des Wortes. Für uns bedeutet das: Bewährtes bewahren und um Neues ergänzen. Wir halten die Tarifbindung nach wie vor für ein hohes Gut, versuchen Veränderungen ohne betriebsbedingte Kündigungen zu ermöglichen und kämpfen für bessere Umwelt- und Sozialstandards in Zweit- und Drittländern.
Wer es schafft, die Bedürfnisse der Menschen konsequent in den Mittelpunkt des Handelns zu stellen, ob als Mitarbeiter, als Partner oder als Kunde, hat gute Chancen, den digitalen Wandel zu bestehen.
Michael Otto
Zur Person
Dr. Michael Otto (73) ist Unternehmer und Aufsichtsratsvorsitzender der Otto Group. 2016 wurde er mit dem Digital Champions Award von der Wirtschaftswoche und der Telekom in der Kategorie „Digitalisierungsmacher der deutschen Wirtschaft“ ausgezeichnet.