Cem Özdemir hält beim „Gipfeltreffen der Weltmarktführer“ die Eröffnungs-Keynote. Ein Pflichttermin für den scheidenden Bundeslandwirtschafts- und Bildungsminister – er will 2026 Baden-Württembergs neuer Ministerpräsident werden. Warum er stolz ist auf unsere Weltmarktführer und der Region Heilbronn-Franken viel zutraut, sagt er im Interview mit dem PROMAGAZIN.

Herr Özdemir, auch wenn es wie eine rhetorische Frage klingt: Ist das Gipfeltreffen der Weltmarktführer für jemanden, der Ambitionen hat, 2026 Baden-Württembergs Ministerpräsident zu werden, nur ein Pflichttermin in eigener Sache? Oder können Sie den Unternehmen im Publikum bereits konkrete Lösungen auf brennende Fragen wie Fachkräftemangel, Infrastruktur und Bürokratieabbau nennen?
Cem Özdemir: Jede Lagebeschreibung muss mit dem ehrlichen Eingeständnis beginnen: Wir haben in den vergangenen Jahren zu viele eigene Fehler gemacht und als politische Entscheidungsträger selbst Anteil daran, dass wir es mit einer tiefen politischen Vertrauenskrise zu tun haben. Aber die aktuelle wirtschaftliche Schwäche reicht weiter, sie hat tiefe strukturelle Ursachen. Wir brauchen dringend einen Schub bei der Produktivität. Es gibt da nicht eine große Stellschraube, es braucht ein Bündel an Maßnahmen – im Bund und den Ländern. Ein zentraler Punkt sollte auf allen Ebenen sein, dass wir Investitionen priorisieren. Auch beim Thema Fachkräfte schlummern noch enorme Potenziale: Gerade bei der Erwerbstätigkeit von Frauen sind wir bei Weitem noch nicht am Ziel oder auch bei der qualifizierten Zuwanderung. Und wir müssen den Unternehmen mehr Luft zum Atmen geben – das gilt für das Thema Unternehmenssteuern, aber vor allem auch für Berichts- und Dokumentationspflichten. Einen Kurswechsel braucht es auch in der Sozialpolitik. Wir müssen die Arbeitsanreize stärken etwa beim Bürgergeld und in der Rentenpolitik. Wohlstand muss erst einmal geschaffen werden, bevor er verteilt werden kann.
Über unsere Region der Weltmarktführer sagen Sie, diese Konzentration an höchst erfolgreichen Familienunternehmen und Global Playern habe auch mit der zupackenden Mentalität der Menschen zu tun, dem „Baden-Württemberg-Spirit“. Was lässt sich mit dieser Geisteshaltung Ihrer Meinung nach erreichen?
Özdemir: Keine Region in Europa gibt mehr für Forschung und Entwicklung aus als Baden-Württemberg. Das ist in unserer technologiegetriebenen Welt der Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit. Wir stehen weltweit mit Kalifornien und Massachusetts an der Spitze. Und auch bei den Patenten liegen wir weit vorne. Das sind Indizien für die enorme Innovationsfähigkeit unserer Unternehmen.

Was ist nötig, damit die Menschen in unserer Region und Deutschland noch mehr Pioniergeist entwickeln?
Özdemir: Erst mal müssen die Rahmenbedingungen stimmen. Der Staat muss für international wettbewerbsfähige Standortbedingungen sorgen. Das ist das Fundament, auf dem müssen alle sicher stehen können. Aber darüber hinaus braucht es noch etwas Weiteres, und das ist der Unternehmergeist. Der ist so etwas wie das der Motor unseres Landes. Wir sind das Land der Gründer, das liegt in unserer DNA. Was anderes waren Benz, Daimler, Draiß? Ich will eine neue Gründerzeit für Baden-Württemberg: Es geht vor allem darum, dass wir Wege finden, wie wir Risiko- und Wagniskapital heben und privaten Investoren mehr Anreize geben. Aber Pioniergedanke muss auch an Schulen, Universitäten und in Gesellschaft stärker verankert werden. Und auch in unserem Mittelstand steckt noch viel Potential für Ausgründungen.
Immer wieder ist aber aus den Reihen mancher Unternehmer der Vorwurf zu hören, die Farbe Grün in der Zeit der Ampelkoalition hätte für zu wenig Wirtschaftskompetenz, für Auf- statt Abbau von hemmenden Regularien und für Subventionen mit der Gießkanne gestanden. Was entgegnen Sie Kritikern?
Özdemir: Der Standort Deutschland hat sich zu lange auf seinen Erfolgen ausgeruht. Die Infrastruktur wurde sich selbst überlassen, die Digitalisierung verschlafen, die sich abzeichnende demographische Katastrophe ausgesessen, die Energiewende ausgebremst, eine aktiv gesteuerte Fachkräfte-Zuwanderung untergraben. Die Ampelregierung hat diese Themen sehr wohl angepackt. Aber vielleicht nicht entschlossen genug. Oft genug haben wir zu viel über den Weg gestritten, statt gemeinsam das in den Fokus zu nehmen, worum es geht: Wir müssen wirtschaftliche Dynamik auslösen. Das ist der Kern. Der Staat ist nicht der bessere Unternehmer, aber er muss die Voraussetzungen schaffen, damit aus den besten Ideen neue Geschäftsmodelle entstehen. Massive Investitionen in Forschung und Entwicklung ist der Königsweg – statt der Förderung einzelner Unternehmungen. In Amerika würde man sagen: Bet on the race, not on the horse.
Sie sagen, als Ministerpräsident würden Sie sich zur Stärkung der Wirtschaft für „Regeln, die ermöglichen“ einsetzen. Wenn ein Unternehmer heute das Wort „Regeln“ vernimmt, hört er vermutlich nicht mehr bis zu Ende zu. Haben Sie ein Beispiel für ermöglichende Regeln – im Gegensatz zu Regularien, die einschränken?
Özdemir: Bürokratie soll für Verlässlichkeit, Rechtssicherheit und faire Spielregeln sorgen. Dafür ist sie unerlässlich. Sie darf aber nicht unnötig aufwändig, praxisfern und innovationshemmend sein. Der Staat war in den vergangenen Jahren zu oft da stark, wo er sich zurückhalten sollte. Und da schwach, wo er stark sein muss. Der europäische Emissionshandel und der CO2-Preis sind Beispiele für Regeln, die dafür sorgen, dass es sich lohnt, in klimaneutrale Technologien zu investieren – mit planbaren und verlässlichen Rahmenbedingungen. Diesen Weg müssen wir konsequent weitergehen. Gleichzeitig darf der Staat bei Themen wie der inneren Sicherheit, der Verteidigungsfähigkeit unseres Landes und der besseren Steuerung von Zuwanderung gern aktiver werden.
Würden die Unternehmen in der Region also auch von gewissen staatlichen Eingriffen profitieren?
Özdemir: Da, wo der Staat marktwirtschaftliche Instrumente nutzt, um ökologische und klimafreundliche Produktlinien anzustoßen, profitieren gerade unsere enorm technologieaffinen Industriezweige. Und die öffentliche Hand kann auch selbst Treiber von Innovation und mehr Dynamik sein: Ein Beispiel ist das neue Vergaberecht in Baden-Württemberg. Direktvergaben werden erleichtert, die Schwellen heraufgesetzt. Oder nehmen Sie das Beispiel Genehmigungen – etwa beim Bauen. Auch hier entstehen pragmatische Wege, die Verfahren beschleunigen und Freiräume schaffen.
Regeln sollen also anwenderfreundlicher werden?
Özdemir: Es geht nicht nur um die Regulierungsdichte, sondern auch um die Verwaltungsqualität. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat 2023 in einer Studie beschrieben: in Regionen mit sehr guter Verwaltung entwickeln sich die Unternehmen auch bei hoher Regulierungsdichte gut. Ich bin überzeugt, dass hier mit dem Einsatz von künstlicher Intelligenz und digitalen Tools in Unternehmen und Verwaltung noch viel geht.
Welche weiteren Voraussetzungen sind nötig, damit Baden-Württemberg und insbesondere Heilbronn-Franken im Sektor Industrie die Nummer Eins Deutschlands bleibt?
Özdemir: Der erste Schritt ist, dass der Ernst der Lage erkannt ist: Der Spielmodus der Weltwirtschaft hat sich vor unseren Augen grundlegend geändert. Von der europäischen Friedensordnung zum russischen Angriffskrieg – wir hätten es früher kommen sehen und Vorkehrungen treffen müssen, zum Beispiel in der Energiepolitik. Dazu kommt: Der Freihandel wird immer mehr von geopolitischem Powerplay überformt: Zölle und Subventionen verzerren den Wettbewerb und belasten den Welthandel. Baden-Württemberg exportiert etwa 14 Prozent seiner Produkte in die Vereinigten Staaten. Stabile Lieferketten und neue Märkte sind wichtiger denn je. Ich bin froh, dass wir beim Freihandelsabkommen Mercosur nun entscheidend vorangekommen sind.

In welchen Punkten muss man in Deutschland noch besser werden, um das Damoklesschwert „Deindustrialisierung“ zu brechen?
Özdemir: Neben der Elektrifizierung rollt mit der Vernetzung/Konnektivität die nächste Innovationswelle auf uns zu. Chip Design und Robotik werden das Herz künftiger Wertschöpfung sein – und wir haben in Baden-Württemberg alle Voraussetzungen, da vorne dabei zu sein. Nach wie vor gilt: Industry follows energy – deshalb muss es unser Kerninteresse sein, dass die starken Industriezentren im Süden zuverlässig versorgt werden. Wir müssen bei der Energiewende das Tempo hochhalten, vor allem beim Netzausbau. Die Energiepreise, insbesondere für die Unternehmen, müssen gesenkt werden. Und wir brauchen mehr technologische Souveränität. Das gilt für ganz Europa. Aber Baden-Württemberg sollte hier Schrittmacher sein.
Sie wollen den Menschen in ihrer Heimat etwas zurückgeben, weil Sie Ihnen viel verdanken, haben Sie sinngemäß als Motivation für eine mögliche Nachfolge von Winfried Kretschmann genannt. Wofür werden Sie sich insbesondere stark machen?
Özdemir: Ich weiß aus meiner eigenen Biographie, wie zentral Bildung für unseren Wohlstand ist. Die Kinder von heute sind die Fachkräfte von morgen. Ich bin fest davon überzeugt: Wenn wir das geistige Vermögen unseres Landes nicht in jeder Generation erneuern und stärken, dann sind wir weg vom Fenster. Wer an Bildung spart, zahlt später doppelt und dreifach. Und auch Weiterbildung ist ganz entscheidender Schlüssel. Lernen muss sich über die gesamte Erwerbsbiographie lohnen und es muss Anreize zum Lernen für alle Altersgruppen geben. Alle – Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Politik – müssen zeitlichen und finanziellen Invest in Weiterbildung als Investition in die Zukunft verstehen.
Und welche positive Botschaft werden Sie beim „Gipfeltreffen der Weltmarktführer“ weitergeben?
Özdemir: Wir können die Aufgaben, die anstehen, aus einer Position der Stärke angehen. Wir haben noch immer alle Instrumente selbst in der Hand, um Wertschöpfung, gute Arbeitsplätze und eine lebenswerte Heimat für die kommenden Generationen zu sichern. Das sollte uns Ansporn sein.
Zur Person
Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) ist seit Dezember 2021 Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland und seit November vergangenen Jahres kommissarisch auch Bundesminister für Bildung und Forschung. Einen Monat zuvor hatte der studierte Diplom-Sozialpädagoge aus Urach verkündet, bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg 2026 als Spitzenkandidat der Grünen für die Nachfolge von Winfried Kretschmann als Ministerpräsident zu kandidieren.
Interview von Natalie Kotowski