Chancen und Risiken des digitalen Unterrichts

Digitale Medien werden den Unterricht künftig bereichern – gemeinsames Arbeiten in Präsenz aber nicht ersetzen. Foto: Adobe Stock/goodluz

Corona hat die Routinen im Bildungswesen durcheinandergebracht und auch in Frage gestellt. Welche Chancen und Risiken digitaler Unterricht birgt und welche Rolle er in Zukunft sinnvoll spielen wird, erläutert Bildungsexpertin Tatjana Linke im Interview.

Es heißt, dass die Pandemie als Booster für die Digitalisierung der Schulen gedient hat – stimmt das wirklich?

Tatjana Linke: Technisch hat sich vieles getan, insofern war die Krise schon ein Booster. Aber ich würde nicht sagen, dass alle Schüler gleichermaßen systematisch mit Ausstattung versorgt wurden und alle Schulen über die selben Rahmenbedingungen verfügen. Wir haben festgestellt, dass es oft an Grundsätzlichem fehlt, etwa an einer guten WLAN-Verbindung. Dennoch war digitaler Distanzunterricht eine gute, pragmatische Lösung. Mit der technischen Ausstattung allein ist es aber nicht getan, weitaus wichtiger ist der kompetente Umgang damit.

Sehen Sie in dieser Hinsicht Defizite?

Linke: In der Krise mussten alle erstmal lernen, mit der Situation zurechtzukommen und den Unterricht in die digitale Welt zu übertragen – auch wir in der Weiterbildung. Im Vorteil waren Schulen, die sich bereits zuvor Gedanken über Sinn und Nutzen von digitalen Medien im Unterricht gemacht haben. Dennoch ist es ein Unterschied, ob man wie zuvor gemeinsam in Präsenz am Smart Board arbeitet, im Internet nach verlässlichen Informationsquellen recherchiert oder plötzlich völlig auf Distanz lehren und lernen muss. Für die Lehrkräfte war es schwieriger, die Schüler und ihre Bedürfnisse im Blick zu behalten, und für die Schüler war es anstrengender, dem Unterricht zu folgen – und sicher oft verlockender, einfach abzutauchen.

Kann Digitalunterricht genauso erfolgreich sein wie Präsenzunterricht?

Linke: Im Digitalen ist es, glaube ich, auf Dauer schwieriger, Schüler zu aktivieren und zu motivieren. Nur wenn sie dazu ermutigt sind, mitzumachen, auch drankommen und mitdiskutieren können, macht ihnen Unterricht Spaß und führt zu Lernerfolgen. Ein ganz zentraler Aspekt ist die Selbstkompetenz der Schüler, ihre Fähigkeit, sich zu organisieren, sich Aufgaben einzuteilen und selbstständig zu lernen. Das wurde aus meiner Sicht in der Vergangenheit stark vernachlässigt. Dabei ist das entscheidend für eine gelingende Bildungsbiografie. In unserer Akademie haben wir Konzepte entwickelt, die bereits im Kindergarten ansetzen, damit Kinder ein Gefühl dafür bekommen, was sie sich zutrauen können, auch Frustrationstoleranz aufbauen und nicht sofort alles hinwerfen, wenn sie nicht direkt Erfolg haben. Das kann man schon bei den Kleinsten in die richtigen Wege leiten.

Erfordert Digitalunterricht also eine andere Herangehensweise?

Linke: Die Kompetenz für mehr Selbstständigkeit im Lernen zu vermitteln, spielt eine ganz große Rolle. Man darf nicht denken, dass es nur darum geht, den Umgang mit den Medien zu beherrschen und Aufgaben zu verteilen. Das Lernen in der digitalen Welt erfordert ein sehr hohes Maß an Disziplin und auch ein Wertegerüst, das die Lernenden befähigt, all die Meinungen und Informationen, die sie online finden, einzuordnen und auf Plausibilität zu prüfen. Sie müssen Gestalter ihrer eigenen Bildungsprozesse werden können. Lehrende müssen sie dabei wie ein Coach unterstützen. Nur weil jetzt auch mit digitalen Mitteln unterrichtet wurde, lässt sich das natürlich nicht ad hoc befördern. Das muss langfristig angelegt sein, um Medienkompetenz auf hohem Niveau zu entwickeln.

Rechnen Sie mit Lernlücken?

Linke: Es sind auf jeden Fall Lernlücken entstanden, weil es viele Kinder gibt, die nicht die technischen Voraussetzungen oder zu Hause keinen idealen Ort hatten, um zu lernen und sich zu konzentrieren. Zudem haben die Lehrenden sie auf Distanz auch nicht so im Blick gehabt. Da wurden viele abgehängt, das belegen auch Studien. Der digitale Distanzunterricht ist auf jeden Fall kritisch, insbesondere, weil er auch so unvorbereitet stattfinden musste. Jetzt wäre es an der Zeit, einen Schritt zurückzutreten und zu reflektieren, was in den vergangenen Monaten gut funktioniert hat und was nicht, was man besser in Präsenz vermitteln sollte und wo digitaler Unterricht sinnvoll ist.

Welche Rolle werden digitale Medien also künftig im Unterricht spielen?

Linke: Blended Learning, das heißt, der Einsatz digitaler Medien im Präsenzunterricht, wird in Zukunft eine wichtige Rolle spielen, zumal es sich gezeigt hat, dass Schüler mit hoher Lernkompetenz durchaus Vorteile aus dem digitalen Unterricht gezogen haben. Sie konnten dadurch ihr eigenes Lerntempo und ihre eigene Auseinandersetzung mit den Themen in den Vordergrund rücken. Gelingt es, diese zu identifizieren, werden bei den Lehrenden Kapazitäten frei, sich um diejenigen zu kümmern, die sich schwerer tun und mehr Unterstützung benötigen. Frontalunterricht, der primär nur Informationen liefert, lässt sich gut digital ersetzen, etwa durch Videos. Diese Erfahrung haben wir in unseren Fort- und Weiterbildungen gemacht. Wichtig ist aber, in Präsenz näher darauf einzugehen und es gemeinsam zu diskutieren.

Interview: Dirk Täuber

Zur Person: Tatjana Linke ist Geschäftsführerin der aim – Akademie für Innovative Bildung und Management Heilbronn-Franken gemeinnützige GmbH.