„Der Knast war meine Rettung“

Es gibt Momente im Leben, die man am liebsten vergessen würde. Es gibt Taten, die man gerne ungeschehen machen möchte. Und es gibt Worte, die besser unausgesprochen geblieben wären. In den meisten solcher Fälle vermag man all das nicht, denn die Dinge sind, wie sie sind. Die Vergangenheit lässt sich nun mal nicht ändern, die Zeit sich nicht zurückdrehen. In der Gegenwart muss man das Beste aus diesen Situationen machen. Dieses Gefühl ist Andreas W. mehr als bekannt. Über viele Jahre hinweg hat er Drogen genommen, seine Mitmenschen betrogen, bestohlen und sie immer wieder belogen. Dafür hat er seine Strafe bekommen: Rund 20 Jahre seines Lebens hat er für diese Delikte im Gefängnis verbracht. In eineinhalb Jahren kommt er auf freien Fuß – und möchte dann sein Leben umkrempeln. Bereits im Knast hat er damit begonnen.

Andreas W. stammt aus Schwäbisch Hall. Hier lebt er bereits sein ganzes Leben. Er ist 43 Jahre alt. Er ist ein großer Mann. Er hat eine kräftige Statur, ein freundliches Lächeln auf den Lippen, einen offenen, interessierten Blick. Seinen Körper zieren einige ungewöhnliche Tätowierungen, die wohl auffälligste: ein schwarzes Tribal am Hinterkopf, das in seiner Form ein wenig an eine Spinne oder einen Skorpion erinnert. Seine Kleidung ist einfach: Er trägt ein blaues Leinenhemd, eine dunkle Hose. In seiner Freizeit spielt Andreas W. am liebsten mit der Konsole, mit der X-Box, um genau zu sein. Er bastelt gerne. Auch Motorrad würde er gerne einmal fahren lernen – ein Traum, den er sich irgendwann noch verwirklichen möchte.

Ein ganz normales Leben – könnte man meinen. Doch in einem sehr wesentlichen Punkt unterscheidet sich das Leben von Andreas W. deutlich von dem anderer Menschen: Andreas W. lebt im Gefängnis, er verbringt seinen Alltag hinter Gittern – in Summe seit rund 20 Jahren. Und damit etwa die Hälfte seines Lebens.

Schicksalsschlag

Dass er dort gelandet ist, kommt nicht von ungefähr. Sein Straftatenregister ist lang, liest sich abenteuerlich: Beschaffungsbetrug, Raub, Drogenbesitz, um nur einige Beispiele zu nennen. Wie kam das?

„Ich war ein eher ruhiges und schüchternes Kind, war eigentlich immer sehr zurückhaltend“, erinnert sich der Gefängnisinsasse. Er redet leise. Es scheint, als falle es ihm nicht leicht, über seine Kindheit zu sprechen – zu viele traurige und negative Erinnerungen scheint er daran zu haben. Das Verhältnis zur Mutter ist schon immer schwierig, seine einzige echte Bezugsperson ist der Vater. Er gibt ihm Rückhalt im Leben und unterstützt ihn. Doch er stirbt 1990 an Heiligabend. Andreas W. ist gerade 15 Jahre alt. Für den damaligen Teenager ein Schock, ein herber Verlust, den er emotional bis heute nicht überwinden kann. Andreas W. findet Trost im Alkohol, trinkt bald regelmäßig. Der junge Mann fühlt sich von Freunden, Schulkameraden und Bekannten dadurch anerkannt, akzeptiert. „Ich habe bewusst übertrieben, damit ich Gesprächsthema bin.“ Er kommt in einer Pflegefamilie unter, findet dort aber keinen Anschluss, fühlt sich ungeliebt und fehl am Platz. Dann der Abrutsch in die rechte Szene im Jahr 1992. Andreas W. kommt das erste Mal mit dem Gesetz in Konflikt. Es folgt Jugendarrest. Das erste Mal, dass er im Gefängnis einsitzt – doch es soll nicht das letzte Mal bleiben.

Wieder draußen beginnt er, neben Alkohol auch Drogen zu konsumieren. Ecstasy ist seine Einstiegsdroge. „Ich habe alles genommen, außer Haschisch“, erinnert sich der ehemals Abhängige und ergänzt traurig: „Alle meine Freunde haben es getan, doch keiner von ihnen ist älter als 30 geworden.“

Rettungsanker

Andreas W. rutscht immer weiter ab. Im Alter von gerade einmal 19 Jahren wird er zu acht Jahren Haft verurteilt. Der Grund: schwerer Raub und Drogenbesitz. „Der Knast war meine Rettung“, sagt er nachdenklich. Es klingt grotesk. Doch in den acht Jahren Gefängnis wird er clean, macht eine Ausbildung zum Werkzeugmechaniker. Die Zeichen stehen auf Besserung. Es scheint, als könne Andreas W. doch noch die Kurve kriegen. Dann die Haftentlassung. Der Tod der Großmutter, seiner einzig noch lebenden Vertrauensperson, zieht ihm erneut den Boden unter den Füßen weg. Wieder findet er keinen Halt im Leben. Wieder fällt er in alte Gewohnheitsmuster zurück. Erfolglos bricht er eine Drogentherapie ab. Drogen werden erneut ein stetiger Begleiter. Er beginnt, sich Heroin zu spitzen. Eine scheinbar endlose Abwärtsspirale beginnt: Knast, Haftentlassung, Knast, Haftentlassung.

Auch jetzt, 20 Jahre später, sitzt Andreas W. ein – seit über vier Jahren schon. „Ich habe das Gefühl, viel in meinem Leben verpasst zu haben“, räumt der Hohenloher ein und wiederholt beinahe gleichzeitig: „Dennoch, das Gefängnis war mein Rettungsanker.“ Die Zeit, die er dort noch verbringt, ist absehbar. Eineinhalb Jahre Haft hat er noch vor sich. Dann heißt es, auf eigenen Beinen zu stehen, Fuß in einem selbstbestimmten Leben zu fassen. Eine Vorstellung, die Andreas W. freudig stimmt, die ihn gleichzeitig aber auch ein wenig verunsichert. „Ich habe große Angst davor, wieder zu scheitern“, gibt er offen zu. Die vergangenen Jahre habe er intensiv an sich gearbeitet, über sich und sein Leben nachgedacht. Und er hat einen Entschluss gefasst: „Ich will es schaffen! Ich weiß, dass ich viele Menschen enttäuscht habe“, sagt er. Als Beispiel nennt er seine Mutter, zu der er auch heute noch ein angespanntes Verhältnis hat. „Sie wollte ihre Wohnung renovieren und hatte dafür einen Kredit in Höhe von 20.000 Euro aufgenommen“, erinnert sich Andreas W. nachdenklich und sagt traurig: „Die habe ich mir komplett in die Nase reingelassen.“ Er schüttelt den Kopf, scheint das, was er getan hat, selbst nicht fassen zu können. „Manche Dinge kann ich nie wieder gut machen. Aber ich möchte davor nicht die Augen verschließen.“ Im Knast habe er gelernt, Verantwortung zu übernehmen, sich nicht aufzugeben, Entscheidungen bewusst abzuwägen und zu treffen – und: dass der einfachste Weg nicht immer der beste ist. Andreas W. ist voller Zuversicht und doch realistisch. „Ich weiß, ich kann es schaffen; aber ich weiß auch, dass ich es nicht alleine kann.“ Der gebürtige Haller möchte sich Hilfe suchen – auch nach der Zeit im Gefängnis. Vor allem aber möchte er eines: ehrlich sein. Und er hat sich noch mehr vorgenommen: Er versucht, manches wieder gut zu machen – auf seine Weise: „Ich werde mich sozial engagieren“, sagt er und hat bereits eine konkrete Idee im Kopf: „Ich möchte anderen von mir und meinem Leben erzählen und gerade junge Menschen davor bewahren, die gleichen Fehler wie ich zu machen.“

Bevor es soweit ist, hat er noch einen Plan: „Ich würde gern mit meiner Mutter ein Eis essen gehen. Denn das haben wir noch nie zusammen getan.“

Lydia-Kathrin Hilpert