Unsere Gesundheit ist unser wichtigstes Gut, keine Frage. Dabei ist es für uns heutzutage selbstverständlich, sowohl auf unsere körperliche als auch auf unsere psychische Gesundheit zu achten. Und das ist gut so, weiß Psychotherapeutin Rosemarie Zimmer.
Frau Zimmer, psychische Erkrankungen nehmen heute immer mehr zu – so scheint es. Ist das tatsächlich der Fall oder bilden wir uns das nur ein, weil in der Vergangenheit nicht über psychische Erkrankungen gesprochen wurde?
Zimmer: Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Die Ergebnisse hängen davon ab, welche Studien herangezogen werden und wie lange der Untersuchungszeitraum dauert. Feststeht, dass die sozioökonomische Bedeutung in den vergangenen zehn Jahren zugenommen hat. Das wird an der gestiegenen Zahl der Frühberentungen und der betrieblichen Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen deutlich, lässt aber keine Rückschlüsse auf einen generellen Anstieg in der Gesellschaft zu.
Welche Krankheitsbilder gibt es denn?
Zimmer: Das Spektrum ist sehr breit. Generell werden sie in verschiedene Störungsgruppen unterteilt: Ess-, Zwangs-, Abhängigkeits-, Persönlichkeits-, aber auch Angst- und affektive Störungen gehören dazu. Würde man alle Formen der psychischen Erkrankungen aufzählen, läge die Zahl dieser vermutlich im dreistelligen Bereich.
Und welche kommt am häufigsten vor?
Zimmer: Ganz klar die Angststörungen. Zirka 20 Prozent der Frauen und zehn Prozent der Männer geben an, darunter zu leiden. Die Zahl überrascht nicht, denn auch spezifische Phobien, also die Angst vor bestimmten Reizen wie Schlangen oder Spinnen, zählen dazu. Außerdem: Eine spezifische Phobie kann vor nahezu jedem Reiz entwickelt werden. In jedem Fall ist wichtig zu unterscheiden, wie ausgeprägt diese wirklich ist. Sobald sie den Alltag einschränkt und damit die Lebensqualität mindert, sollte man sich behandeln lassen. Gerade bei Ängsten lassen sich gute Erfolge einstellen.
Gibt es Menschen, die besonders gefährdet sind, psychisch krank zu werden?
Zimmer: Pauschal lässt sich das nicht sagen. Man muss immer das gesamte Bild betrachten. Denn bei vielen psychischen Erkrankungen ist oft eine Kombination aus verschiedenen Stressoren sowie biologischen und lerngeschichtlichen Vorbelastungen der Grund für deren Ausbruch. Es gibt Faktoren, die das Risiko, psychisch zu erkranken, erhöhen: etwa Kriegs- oder Fluchterfahrungen. Einen kausalen Zusammenhang kann man aber daraus nicht ableiten.
Frauen leiden häufiger an psychischen Erkrankungen als Männer. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass Männer psychisch belastbarer sind?
Zimmer: Chronischer Stress spielt bei der Entstehung psychischer Erkrankungen eine zentrale Rolle. Laut dem Ergebnis einer Studie des Robert-Koch-Instituts schätzen Frauen den Alltagsstress oft höher ein als Männer. Sie müssen neben der Berufstätigkeit auch erzieherische oder familiäre Aufgaben übernehmen, die zeitlich oft engmaschig sind und aufwendig koordiniert werden müssen. Dadurch müssen Frauen im Alltag häufig flexibler sein, sich schneller auf neue Situationen einstellen. Dennoch würde ich nicht sagen, dass sie per se anfälliger für psychische Erkrankungen sind. Belastungsgrenzen sind bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt – egal, ob Mann oder Frau. Darüber hinaus gestehen sich Männer seltener ein, krank zu sein oder Probleme zu haben, was wiederum Auswirkungen auf die diagnostische Feststellung psychischer Erkrankungen hat.
Woran erkenne ich, dass eine psychische Erkrankung vorliegt oder Gefahr droht, psychisch zu erkranken?
Zimmer: Auch das ist schwer, pauschal zu beantworten, weil die Symptome sehr unterschiedlich sein können. Ein häufiges Frühwarnzeichen für die Entwicklung psychischer Beschwerden – insbesondere bei depressiven Erkrankungen – sind Symptome wie Nervosität, Anspannung, Reizbarkeit oder Lustlosigkeit. Manchmal sind die Anzeichen auch körperlich: Anhaltende Magen- oder Kopfschmerzen können darauf hinweisen. Auch das Gefühl, nicht abschalten zu können, kann ein Signal sein. Psychisch Gesunde erleben eine innere Ausgewogenheit, bei psychischer Erkrankung gerät dies aus dem Gleichgewicht.
Nach wie vor möchten sich viele Menschen nicht eingestehen, dass sie Hilfe bei der Überwindung psychischer Probleme brauchen. Ist die Diagnose „psychisch krank“ in unseren Köpfen ein so großes Stigma oder woran liegt das?
Zimmer: Die Angst von anderen als nicht belastbar oder nicht leistungsfähig angesehen zu werden, ist bei vielen groß und wird häufig als Makel wahrgenommen. Viele Betroffene haben darüber hinaus die Befürchtung, andere könnten denken, sie hätten ihre Probleme nicht im Griff. Auch deswegen herrscht bei manchen die Einstellung vor: „Das muss ich alleine schaffen.“ Dennoch: Die gesellschaftliche Akzeptanz psychischer Krankheiten hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Und das ist sehr positiv.
Warum ist die Gesundheit unserer Psyche auch wichtig für die Gesundheit unseres Körpers?
Zimmer: Körper und Psyche lassen sich nicht voneinander trennen. Alles greift ineinander – wie Zahnräder. Psychische Erkrankungen können sich direkt und in verschiedener Form ungünstig auf unseren Körper auswirken und andersherum. Gerade bei Essstörungen ist das sehr deutlich zu erkennen, aber auch bei Depressionen. Ein Kausalzusammenhang lässt sich zwar nicht herstellen, aber es ist definitiv hilfreich, körperlich gesund zu sein, um psychische Beschwerden zu vermeiden.
Was kann man im Alltag unternehmen, um psychisch gesund zu bleiben?
Zimmer: Wichtig ist, auf einen guten Ausgleich zwischen Anforderung und Entspannung zu achten. Unser Körper kann Stress aushalten, aber eben nicht auf Dauer. Deshalb sollte man seine Freizeit zwar aktiv, keinesfalls aber überfordernd gestalten. Freie Zeit sollte keine stressige Zeit sein, sondern angenehm. Auch soziale Kontakte und eine gesunde Ernährung sind sehr wichtig, um die eigene Gesundheit zu stärken.
Interview: Lydia-Kathrin Hilpert
Zur Person
Rosemarie Zimmer ist studierte Diplom-Psychologin. Heute arbeitet die 38-Jährige als Psychologische Leiterin Medizinische Rehabilitation (RPK) des Therapeutikums in Heilbronn. Zimmer ist verheiratet und lebt in Kupferzell.