Stefanie Stahl zur mentalen Disziplin

Die Psychologin Stefanie Stahl geht der großen Frage nach, wie der Mensch eigentlich tickt. Foto: Susanne Wysocki

„Ohne Bindung könnten wir nicht überleben”, sagt  Psychologin und Bestsellerautorin Stefanie Stahl. Gerade in Krisenzeiten ist das besonders deutlich. Zusammenhalt und Solidarität spielen dabei eine große Rolle. 

Ihr neues Buch “Wer wir sind?” behandelt den Bauplan unserer Psyche. Jeder von uns nimmt die Welt subjektiv wahr. Welchen Rat geben Sie Menschen in den aktuellen Krisensituationen?

Stefanie Stahl: Ich muss mir überlegen, was bei mir jeden Tag anliegt und mich zuallererst um mein eigenes Leben kümmern. Ganz wichtig dabei ist, dass ich mir überlege, in welchen Bereichen ich Kontrolle habe und selbst Einfluss nehmen kann. Denn es bringt mich keinen Schritt weiter, wenn ich mich in Weltuntergangsszenarien hinein steigere. Ich kann nicht die Welt retten, aber vielleicht kann ich einen kleinen Einfluss nehmen, um mein Ohnmachtsgefühl zu verändern. Wer Geld übrig hat, kann etwas spenden, wer Zeit hat, kann sich irgendwo engagieren. So kann ich den kleinen Beitrag leisten, den ich mich im Stande fühle zu leisten. Und deswegen ist es auch wichtig, dass man eine gewisse mentale Disziplin hat, um sich darauf zu konzentrieren was die größeren Probleme sind.

Derzeit nehmen verschiedene Menschen die Realität offenbar sehr unterschiedlich wahr. Wie lässt sich das erklären?

Stahl: Wenn wir etwas wahrnehmen, also sehen, fühlen oder riechen, wird der Eindruck sofort blitzschnell und unbewusst mit unserer Erinnerung verglichen, auch im zwischenmenschlichen Bereich. Und wenn ich als Kind und Jugendlicher sehr viel Ablehnung erfahren habe und sehr viele Erlebnisse hatte, bei denen ich das Gefühl hatte, dass ich nicht richtig ankomme, dass ich nicht richtig verstanden werde oder dass ich auf Missbilligung stoße, dann ist das ein Großteil meiner persönlichen Erinnerungen im zwischenmenschlichen Bereich. Und dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich Eindrücke, die mir da draußen begegnen, schnell negativ aufnehme, weil meine Erinnerung so geprägt ist. Vor allem rechne ich dann auch damit, abgelehnt zu werden. Und entsprechend organisiere ich mein Verhalten.

Inwiefern?

Entweder ich reagiere ablehnend oder ich bemühe mich wahnsinnig, alle Erwartungen zu erfüllen. Ganz viele Menschen versuchen allen zu gefallen. Aber sie rechnen nicht damit, dass es reicht, wenn sie sind, wie sie sind. Dabei sollten sie sich fragen, warum sie damit rechnen, dass sie scheitern oder auf Ablehnung stoßen und ob das überhaupt realistisch ist und sich die Gegenbeispiele in ihrem Leben vor Augen führen, bei dem das nicht so war, und bei dem sie durchaus willkommen waren oder was bewirken konnten. In manchen Situationen kann es allerdings auch einen verdeckten positiven Nutzen haben, wenn man am negativen Selbstwertgefühl festhält. Beispielsweise kann es mir Kontrolle bringen, denn dann weiß ich, was ich zu tun habe. Ich muss mich anstrengen und bestimmte Dinge tun und das ist meine Komfortzone.

In ihren Büchern sprechen Sie viel über Selbstwert und Glaubenssätze. Wie wichtig sind diese beiden Aspekte in der Gesellschaft?

Stahl: Sie sind total wichtig. Selbstreflektion und Mitgefühl wären ganz wichtige Schlüssel, um die Probleme dieser Welt zu lösen. Wenn jeder Einzelne in der gesamten Welt für sich reflektieren und seine Prägungen, Glaubenssätze und die psychologischen Zusammenhänge kennen würde, hätte er dadurch auch viel mehr Kontakt zu seinen eigenen Gefühlen. Wenn es mit den Eltern beispielsweise nicht so toll läuft, passt sich das Kind an die Eltern an. Das Kind versucht sich so zu verhalten, dass die Beziehung zu den Eltern gelingt. Es übernimmt quasi die Verantwortung und ein Teil des Preises dafür ist, dass es einen Teil seiner Gefühle, seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche nach hinten stellt. Es gibt viele Erwachsene, die sagen, ich habe keinen guten Kontakt zu meinen Gefühlen oder zu dem, was ich eigentlich will oder nicht will. Und je weniger ich selbst fühle, desto weniger mitfühlend kann ich auch gegenüber anderen Menschen sein.

Zusammenhalt und Solidarität werden in der aktuellen Zeit immer wieder thematisiert. Aber was ist Solidarität eigentlich?

Stahl: Solidarität ist ein extrem allgemeiner Begriff. Er bedeutet für mich persönlich auch immer, dass man, soweit es geht, möglichst mitfühlt, wie es anderen Menschen geht, die in sehr viel schlechteren Situationen sind, als man selbst und ein bisschen Verständnis dafür aufbringt, was deren Motive sind. Warum sie so sind, wie sie sind oder warum sie nach Deutschland flüchten. Das bedeutet auch, dass man andere Menschen etwas differenziert sieht und nicht zu pauschalen Verurteilungen neigt, die dann zu einer emotionalen Verrohung führen können.

Warum ist Zusammenhalt für den Menschen grundsätzlich wichtig und welche Funktion hat Zusammenhalt in Krisenzeiten?

Stahl: Beim Zusammenhalt geht es um das Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Bindung. Wir haben vier psychologische Grundbedürfnisse, dazu zählen außerdem Autonomie und Kontrolle, der Wunsch unser Selbstwertgefühl zu erhöhen sowie der Wunsch sich möglichst gut zu fühlen und schlechte Gefühle wie Angst, Trauer, Verzweiflung und Schamgefühle zu meiden. Auf dem Hintergrund dieser vier Grundbedürfnisse, und ungeachtet ein paar anderer Wirkungsmechanismen, kann man eigentlich einen Großteil unseres psychologischen Verhaltens verstehen. Eines der wichtigsten Bedürfnisse ist aber die Bindung, denn sie ist immer sicherheitsspendend und haltgebend. Ohne Bindung könnten wir nicht überleben. Deswegen hat uns die Natur auch so viel Motivation in Form von Gefühlen mitgegeben, die uns motivieren, uns an andere Menschen zu binden. In Krisenzeiten ist dieses ‚allein bin ich nicht überlebensfähig‘, ‚ich brauche eine Gemeinschaft‘, ‚ich brauche Halt, Trost aber auch gegenseitige Hilfsbereitschaft‘ besonders deutlich. Deswegen ist ja auch oft der Zusammenhalt in Gesellschaften, denen es gar nicht so gut geht, oft besser als in Wohlstandsgesellschaften.

Wie kann man als Einzelner den Zusammenhalt mit anderen oder in der Gesellschaft fördern?

Stahl: Für die Gesellschaft kann man nicht viel Positives bewirken, so viel Einfluss hat der Einzelne nicht. Ich kann mich möglichst anständig verhalten und je reflektierter ich bin, desto weniger bin ich geneigt, meine eigenen Minderwertigkeitskomplexe und Aggressionen an anderen Menschen auszuleben. Dafür kann ich mir überlegen, was ich für mich als einzelne Person machen kann. Mir geht es in meinen Büchern nicht allein darum, dass die Leser zufriedener sind und besser mit ihrem Leben klarkommen, sondern auch darum, dass sie zu besseren Menschen werden. Denn wenn ich mich selbst besser reflektiere, dann bin ich auch der bessere Nachbar oder die bessere Nachbarin, die bessere Chefin und so weiter, weil ich meine eigenen Programme nicht unbewusst auf andere projiziere. Wenn ich mit mir gut in der Balance bin, mich ganz in Ordnung finde und mich auf Augenhöhe mit anderen Menschen fühle, oder nicht unterlegen oder überlegen, dann kann ich auch viel wohlwollender mit meinen Mitmenschen umgehen, dann muss ich nicht kleinlich und aggressiv sein, und auch nicht immer eine Maske tragen, während kein Mensch eigentlich weiß, woran er mit mir ist.

Konkret heißt das?

Stahl: Jeder sollte für sich mit offenen Augen durch die Welt gehen und sich keine Scheuklappen aufziehen, nach dem Motto ‚Hauptsache ich komme hier irgendwie durch‘. Das zeigt sich an Kleinigkeiten. Wenn man sieht, dass die Nachbarin ganz schön einsam ist, kann man klingeln und sie auf eine Tasse Kaffee einladen. Das gilt auch für das Kollegium in jeder Firma. Wer mit offenem Herzen durch die Welt geht und schaut, wo er vielleicht etwas Gutes bewirken kann, erhält das Gute auch wieder zurück. Es gibt ja viele psychologische Studien, die belegen, dass es ein ähnliches Glücksgefühl ist, wenn man einem anderen Menschen etwas Gutes zu tun, wie wenn man Schokolade isst. Und Schenken macht noch glücklicher, als beschenkt zu werden.

Durch die Sozialen Medien und die Digitalisierung sind wir weltweit vernetzt. Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf das “Wir-Gefühl” und den Zusammenhalt der Menschen?

Stahl: Das Internet gibt unserem Bindungsbedürfnis weltweit wahnsinnig viele Chancen. Wenn ich mich einsam und isoliert fühle, weil ich eine bestimmte Krankheit habe, gehe ich ins Internet und bin sofort im Club derjenigen, die dieselbe Krankheit haben. Das schafft unglaublich viele Bindungsmöglichkeiten. Leider gilt das auch für Gruppen, die keine guten Ziele verfolgen, das sind die Risiken dabei.

Es gibt viele Menschen, die sich für die Gemeinschaft stark machen und einsetzen. Und es gibt Menschen, die sich lieber raushalten. Wieso sind wir als Menschen in unserem Handeln so unterschiedlich?

Stahl: Das hängt stark mit unserer Motivation und unseren frühen Kindheitsprägungen zusammen. Die einen sagen, dass sie das Gefühl haben, ganz viel bewirken zu können. Das gehört zum Grundbedürfnis Autonomie und Kontrolle. Es hängt stark von meinen Kindheitsprägungen ab, ob sich dieses Gefühl in mir etabliert oder nicht. Die anderen sagen, dass sie wenig bewirken wollen und können, weil sie lieber nur zusehen, dass es ihnen selbst am Besten geht. Das sind individuelle Entscheidungen, die alle auf dem Hintergrund der Grundbedürfnisse oder individuellen Prägungen oder auch Genen fußen, welche auch unseren Charakter und unsere Vorlieben formen. Schließlich sind wir nicht alle gleich gestrickt.

Frau Stahl, Sie sind eine der bekanntesten Psychologinnen in Deutschland, Ihre Bücher stürmen Bestsellerlisten. Wie gehen Sie mit dem Erfolg um? Und welche Ihrer eigenen Ratschläge beherzigen Sie besonders?

Stahl: In meinem täglichen Leben ist der Erfolg nicht angekommen, daher hat sich dort auch nichts geändert. Doch obwohl ich eher ein positiver Mensch bin, habe ich auch gelegentlich negative Gedanken. Das kommt daher, dass unsere Gehirne evolutionär darauf ausgerichtet sind, nach dem Negativen zu suchen.Und jedes Mal, wenn ich mich dabei ertappe, dass ich mich zu sehr in eine negative Emotion oder einen negativen Gedanken hinein steigere, schalte ich sofort auf Weitwinkel um und mache mir bewusst, dass es gerade nur ein elektromagnetischer Impuls ist, auf den ich reagiere. Ich versuche wieder das ganze Bild ins Auge zu nehmen, also auch die positiven Seiten, all das, was auf der Haben-Seite steht. Das ist eine Frage der mentalen Disziplin. Und dazu muss man zunächst bemerken, dass man im negativen Nebel ist, denn sonst läuft das eingeprägte Programm ohne einen ab.

Wie kann ich diese mentale Disziplin erreichen?

Stahl: Indem ich es immer wieder bemerke und mir bewusst mache, wenn ich Gedanken habe, die mich zu weit weg und in ein Gefühl der Ohnmacht führen oder wenn ich mich in Grübeleien verliere, die total zwecklos sind. Dann sage ich laut ‚Stopp‘ und ‚das bringt mich jetzt keinen Schritt weiter‘ und konzentriere mich anschließend ganz bewusst auf das Hier und Jetzt, auf die Aufgabe, die vor mir liegt, auf den Menschen, der vor mir sitzt, auf das Buch, das ich gerade lese oder auf den Film, den ich anschaue. Wichtig ist, dass ich mich immer wieder ins Hier und Jetzt zurückhole.

In Ihrem Buch “Das Kind in dir muss Heimat finden” geht es darum, wie stark das Gehirn von unseren frühen Kindheitserfahrungen geprägt ist. Wurzeln wirklich alle psychischen Probleme in der Kindheit?

Stahl: Sehr viele Probleme haben ihren Ursprung in der Kindheit. Wenn wir auf die Welt kommen, ist unser Gehirn noch unfertig und bietet unglaublich viele Möglichkeiten. Wie unsere Gedanken geprägt werden, hängt einerseits von unseren Genen ab, an denen wir nichts ändern können, und andererseits von unseren frühkindlichen Prägungen und Erfahrungen, die hochgradig subjektiv sind. Richtig fertig entwickelt ist unser Gehirn, wenn wir etwa 20 Jahre alt sind, aber es bleibt auch weiterhin entwicklungsfähig, sonst gäbe es ja gar keine Hoffnung. Wie ich heute die Welt da draußen wahrnehme, hängt sehr von meinem geprägten Selbstbild ab, da dieses gemeinsam mit meinem Selbstwertgefühl sehr stark meine Gefühle und mein Denken beeinflusst. Und da beides willkürliche Prägungen sind, können wir sie verändern.

Wie funktioniert diese Umprägung?

Stahl: Zunächst muss ich erkennen, wo ich stehe. Das ist mehr als die Hälfte der Miete. In dem Moment, in dem ich mir klar mache, dass ich zum Beispiel zu dem Selbstbild und Selbstwertgefühl gekommen bin, dass ich nicht genüge oder als Person nicht wertvoll bin, und ich mir herleite, wie ich auf diese Idee komme, dann lande ich oft in der Kindheit. Dort ist vielleicht irgendetwas nicht so günstig gelaufen. Vielleicht waren meine Eltern überfordert oder hatten das ein oder andere falsche Konzept. Dadurch bin ich, wie alle Kinder, nicht zu dem Ergebnis gekommen, dass meine Eltern besser in eine Erziehungsberatung gehen sollten, sondern, dass irgendwas mit mir nicht stimmt. So funktionieren diese Prägungen. Und wenn ich mir bewusst mache, dass, wenn meine Eltern etwas anders agiert hätten, ich jetzt andere Glaubenssätze hätte, dann wird mir die Willkürlichkeit des ganzen Geschehens auch nochmal klar. In dem Moment kann ich danach fragen, was denn in der Situation eigentlich realistisch wäre und anfangen, meine inneren Einstellungen und Haltungen zu mir selbst zu verändern. Das zieht viel nach sich, denn in dem Ausmaß, in dem ich mein Bild von mir verändere, verändere ich auch mein Bild von der Welt.

Können Sie dies an einem konkreten Beispiel verdeutlichen?

Stahl: Wenn ich grundsätzlich das Gefühl habe, dass ich nicht genüge, fühle ich mich schnell minderwertig. Wenn ich auf eine Party eingeladen bin und mich dort verunsichert fühle, denke ich, dass ich irgendwie nicht ok bin und die anderen alle so eloquent und schön sind. Schon fühle ich mich in meinem Minderwertigkeitsgefühl getriggert und fühle mich kleiner. Dadurch nehme ich die anderen Menschen als größer wahr und so bekommen sie eine Bedrohlichkeit, denn das sind ja die, die besser und überlegen sind. Und jetzt muss ich etwas tun, um das zu kompensieren. An diesem Punkt könnte ich überlegen: ‚Ach das sind eh alles nur Idioten‘ und dann mache ich innerlich dicht und verabschiede mich vielleicht nach einer Stunde und rette mich wieder in meine häusliche Sicherheit, wo keine Selbstwertbedrohung vorherrscht.

Wie kann ich meine Gedanken an dieser Stelle positiv beeinflussen?

Stahl: Wenn ich mein Selbstwertgefühl positiv-realistisch verändere, indem ich sage: ‚ich bin total ok‘ und ‚wir sitzen alle in einem Boot‘ oder ‚die anderen sind mit mir auf Augenhöhe. Sie sind auch nicht perfekt, denn jeder hat seine ‚kleineren oder größeren Lebensprobleme‘ und ‚letztendlich sind wir eine große Gemeinschaft, zu der ich gehöre und in der ich grundsätzlich willkommen bin‘, dann ist meine Perspektive auf die Menschen eine völlig andere. Und dann bleibe ich auf der Party, öffne mich, komme mit dem einen oder anderen ins Gespräch und habe vielleicht einen ganz schönen Abend. Das ist ein ganz banales Beispiel, aber das ist genau der Wirkmechanismus, um den es in allen möglichen sozialen Situationen geht, denn letztendlich geht es ja immer um Beziehungen.

Interview: Beatrix Drescher/Teresa Zwirner

 

Zur Person:

Stefanie Stahl ist seit über 30 Jahren Psychotherapeutin. Die Buchautorin behandelt in jeder ihrer Psychotherapie-Podcast Folgen „Stahl aber herzlich“ ein spezifisches Problem. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Lukas Klaschinski ist sie außerdem im Podcast „So bin ich eben“ zu hören, im Videoformat „PsychoCouch“ auf YouTube zu sehen und erklärt auf den Bühnen im Land die menschliche Psyche. Auf ihrer Homepage führt sie einen „Psycho-Blog“.