Eine Welt aus Glas

Die Museumslandschaft in Heilbronn-Franken kann sich definitiv sehen lassen – von diversen Automobilmuseen über ein Jeansmuseum bis hin zum Weinbaumuseum gibt es viel zu entdecken und bestaunen. Auch das Glasmuseum in Wertheim ist etwas für alle Sinne.

Ein ganz normaler Morgen: Aufstehen, Zähne putzen, einen Blick in den Spiegel werfen, ein Wasser oder auch einen Orangensaft zum Frühstück trinken, beim Essen auf dem Smartphone E-Mails checken, ins Auto steigen, zur Arbeit fahren, an der Ampel stehen. Preisfrage: Wie oft kommen wir bei diesem Ablauf, der fast jeden von uns tagtäglich betrifft, mit dem Werkstoff Glas in Berührung? Öfter, als Sie wahrscheinlich vermuten – nämlich exakt fünfmal: beim Badezimmerspiegel, beim Trinkglas, beim Smartphone-Display, bei der Autowindschutzscheibe und bei der Ampelanlage. Glas begegnet uns im Alltag praktisch von morgens bis abends. Warum sollte es also nicht auch ein Museum für das Gemisch aus Sand, Soda und Kalk geben? Und das gibt es auch. Seit dem 29. Mai 1976 steht in der rund 23.000-Einwohner-Stadt Wertheim, am nördlichsten Zipfel Baden-Württembergs gelegen, das Glasmuseum Wertheim.

Auf einer Ausstellungsfläche von insgesamt etwa 650 Quadratmetern werden dem Besucher gut 1000 „zerbrechliche“ Exponate, aus allen Epochen stammend, in alphabetischer Reihenfolge präsentiert – angefangen bei A wie Ägyptisches Glas über L wie Laborglas bis hin zu Z wie Zähne aus Glas. Weitere 6000 befinden sich im Archiv.

Marianne Tazlari ist eine herzliche Frau. Sie strahlt bei der Begrüßung und es ist ihr anzumerken, dass sie es kaum erwarten kann, vom Museum, vor dem übrigens ein roter Teppich ausgelegt ist, zu erzählen. Die 60-Jährige arbeitet seit 1992 im Haus, zwei Jahre nach ihrem Einstieg avancierte sie zur Museumsleiterin. Über die beinahe zwei Dekaden vor ihrer Zeit spricht Tazlari, als wäre sie selbst dabei gewesen. Im Museumsshop stehend – umgeben von gläsernen Schalen, Vasen, Flakons und Schmuckstücken, Thermometer und Kaleidoskopen – berichtet sie euphorisch von der Gründung des Glaswerkes Wertheim durch den Glasphysiker und -unternehmer Dr. Hans Löber (1900-1978) aus Thüringen und der daraus resultierenden Entstehung des Trägervereins Wertheimer Glasmuseum e. V.. „Dr. Löber war leidenschaftlicher Glassammler“, weiß Tazlari. Sein Konvolut vermachte der Vereinsvorsitzende naheliegenderweise dem Museum, denn es war immer sein Traum, ein solches ins Leben zu rufen. Und das nicht nur, um die Vielfalt des Werkstoffes zu zeigen, sondern auch, um junge Glaskünstler zu fördern und ihnen für ihre Kreativität eine Plattform zu bieten.

In ganz Baden-Württemberg ist das Wertheimer Glasmuseum einzigartig. Deutschlandweit gibt es knapp 20 dieser Art. Doch warum sollte man überhaupt ein solches Museum besuchen, wenn einen Glas ohnehin nahezu ständig umgibt? Weil es nicht nur um die Optik, sondern auch um die Haptik, nicht bloß um Sehen, sondern auch um Verstehen geht. Dafür ist natürlich auch der Dialog von immenser Bedeutung. „Die Besucher schätzen immer noch eine persönliche Betreuung“, sagt Tazlari.

Weil die Nachfrage besteht, werden die Führungen für die jährlich etwa 12.000 Gäste neben Deutsch auch auf Französisch und Englisch angeboten. Das übernehmen – zusammen mit zwei ehrenamtlichen Kolleginnen – Marianne Tazlari und Barbara Benz, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin, selbst. So versiert sind sie in den beiden Fremdsprachen. Aber es gibt auch Audioguides – in Deutsch und Englisch. Und dass sie die Ausstellungen, die regelmäßig wechseln, so gut wie ihre eigene Westentasche kennen, ist nur logisch. Denn Tazlari und Benz konzipieren sie selbst. Darüber hinaus kümmern sie sich auch noch um die Pressearbeit und das Marketing. Insgesamt hat das Glasmuseum 18 Mitarbeiter, davon ist der Großteil ehrenamtlich tätig, schließlich handelt es sich um einen Verein. Auch drei Glasbläser sind im Haus, das der Stadt Wertheim gehört, beschäftigt – eine Besonderheit, da wenige Glasmuseen diese Kunsthandwerker unter ihrem Dach haben.

An diesem Freitag im Mai sitzt einer von ihnen – sein Name ist Ralf Marlok – an einem Holztisch, umrahmt von einer Fülle an Glasröhren und -stäben, fertigen und unvollendeten Glasprodukten Werkzeugen und anderen Utensilien. Vor Marlok steht sein wichtigstes Arbeitsmittel: die Gebläselampe. Über deren tausende Grad heißer Flamme hält er zwei Glaskolben mit langen Stielen – den sogenannten Glasspieß. Durch diese Kolben können Besucher in das Glas hineinblasen und daraus eine einfache Kugel oder auch einen Fisch formen. Allerdings ist dabei Behutsamkeit geboten, denn man sollte die Luftzufuhr gut dosieren, damit das gewünschte Objekt eine schöne Rundung erhält. Das Glasblasen ist jedenfalls sehr beliebt bei den Besuchern. Vor allem Kinder würden sich über ihre Fische freuen, die sie dann auch mit nach Hause nehmen dürfen, erzählt Marlok.

Neben der Glaswerkstatt und den klassischen Vitrinen mit Exponaten zum Bewundern und Bestaunen bietet das Glasmuseum Wertheim 30 Glas-Spielstationen für Kinder und Jugendliche – wie „Flaschenteufel“, Liebesbarometer, Temperamentsmesser, Parabolspiegel als „Zerrspiegel“ oder Murmellabyrinth. Dabei wird spielerisch die technische Seite des Werkstoffes vermittelt. Absolutes Highlight ist jedoch die Weihnachtsausstellung mit ihrem gläsernen Christbaumschmuck an teilweise echten Bäumen – zumindest im Advent. Blickfang ist dabei definitiv der drei Meter hohe „Glasröhrenbaum“ aus Kapillarröhren der Wertheimer Glasindustrie verziert mit silbernen Kugeln, Zapfen und Teelichthaltern. Da kommt selbst im Frühling Weihnachtsstimmung auf.

Das Herz des Museums sei dennoch die Vitrine G, sind sich Tazlari und Benz einig. Dort stehen mehrere Guttrolfe, die auch Gluckerflaschen genannt werden. Dabei handelt es sich um Trinkgefäße mit bauchigem Körper und schlankem Hals, der manchmal aus ineinander verdrehten Röhren besteht. Das Aufnehmen des Flascheninhalts wird durch diese absichtlich erschwert, da die Gefäße meistens Hochprozentiges enthalten. „Sie sind die ersten Stücke in der Sammlung von Dr. Löber“, schwärmt die Museumsleiterin. „Damit hat alles begonnen.“

Olga Lechmann