Endlich digital erwachen

Die Digitalisierung nimmt die gesamte Arbeits- und Lebenswelt ein. Gerade von wirtschaftlicher und politischer Seite gilt es, den Wandel voranzutreiben. Genau das verschläft die Bundesrepublik aber gerade, mahnt Experte Peter Gentsch an.

Verschläft Deutschland die digitale Transformation oder handelt es sich nur um eine allgemeine Panikmache und wir befinden uns auf einem guten Weg? Diese Frage wird seit mehreren Jahren kontrovers diskutiert und kann nur differenziert beantwortet werden:

Versteht man unter digitaler Transformation die Computerisierung – das Aufsetzen von digitalen Projekten oder innovativen Industrie-4.0-Technologien –, dann kann die Frage eindeutig mit „Nein“ beantwortet werden. Deutschland ist eine der führenden Nationen in diesem Feld – dem „Digitizing“ von Produkten, Dienstleistungen und Prozessen. Versteht man allerdings digitale Transformation als „Digitalization“, also als tiefgehende Digitalisierung der Struktur, Kultur und Prozesse von Unternehmen, dann kann Deutschland nur als Schlafmütze bezeichnet werden. Im weitreichenden Aufbau einer digitalen Ökonomie hinkt Deutschland anderen führenden Wirtschaftsnationen hinterher und ist weit von einem Status als „Digital Leader“ entfernt.

Klar ist, Digitalisierung ist weit mehr als Technologie. Immer wieder werden die richtige digitale Denkweise, das notwendige Change Management und die digitale Führungskultur gefordert. Diese Punkte sind leider deutlich anspruchsvoller als der Kauf einer innovativen Technologie. Dies gilt übrigens für alle Länder.

Was noch Fehlt

Was ist nun besonders in Deutschland? Uns fehlt die Radikalität, bestehende Strukturen grundsätzlich infrage zu stellen. Vom Kunden her zu denken, heißt nicht einen originellen 24-Stunden-Service an sieben Tagen die Woche zur Verfügung zu stellen oder brav nach Kundenfeedback zu fragen. Ein Unternehmer muss den Mut haben, sein gesamtes Geschäftsmodell aus Sicht der Kunden zu hinterfragen: Was erwartet ein souveräner Kunde vom Betrieb? Werden Produkte und Services in einer digitalen Welt von anderen Unternehmen besser angeboten? Welche neuen Chancen ergeben sich für die Firma in einer digitalen Welt? Das Motto müsste lauten: „Zerstöre dein Business selbst, bevor es andere tun.“ Diese Radikalität ist uns nicht in die Wiege gelegt. Sie erfordert viel Mut und vor allem auch die Agilität, neue Strukturen und Geschäftsmodelle rasch und nachhaltig erfolgreich aufzubauen.

Zu häufig noch verstehen deutsche Führungskräfte digitale Transformation als die mechanistische und technokratische Elektrifizierung sowie Digitalisierung von Prozessen. Viele Führungskräfte machen einen Silicon-Valley-Trip, atmen dort einmal tief digital durch und versuchen dann vergebens, die vielen Inspirationen und Ansätze mit in ihr Unternehmen nach Deutschland zu bringen. Dort werden sie dann aber allzu schnell wieder von prozessualer und formaler Realität eingeholt.

Vielleicht wird noch ein mit einem externen Berater nachgeschoben oder ein Start-up-Unternehmen beziehungsweise ein Redner – am besten aus dem Valley – eingeladen. Natürlich können diese Ansätze durchaus sinnvoll sein, sie müssen aber konsequent aus einem übergeordneten Führungs- und Strategie-Verständnis abgeleitet werden. Gerade bei Entscheidungsträgern deutscher Unternehmen fehlt die volle Überzeugung in letzter Konsequenz. Zu oft bleiben diese Ansätze eine Alibi-Aktivität oder verharren auf einer gut gemeinten, aber nicht nachhaltigen, singulären Maßnahmenebene

Fazit und Forderung

Insgesamt fehlen in Deutschland die für eine erfolgreiche Digitalisierung notwendigen kulturellen, politischen, regulatorischen, infrastrukturellen sowie arbeitsplatz- und ausbildungsbezogenen Rahmenbedingungen. Die geringe Entwicklungsgeschwindigkeit in diesen Bereichen gepaart mit dem exponentiellen Technologiefortschritt spitzen die Situation in Deutschland weiter zu.

Haben uns früher digitale Tools geholfen, in der realen Welt besser zurechtzukommen, ist digital heute unsere Realität. Wir müssen endlich begreifen und akzeptieren, dass digital kein Add-on – keine Erweiterung – ist, sondern unsere Atmosphäre, unsere Luft zum Atmen.

Insgesamt besteht in Deutschland großer Handlungsbedarfe bei der digitalen Transformation. Glücklicherweise gibt es in der Bundesrepublik bereits einige gute Initiativen, die durch offenen und ambitionierten Diskurs helfen, die Digitalisierung hierzulande weiter voranzutreiben. Beispielhaft sind die Initiative Deutschland digital oder der Digital Excellence Circle zu nennen.

Diese Bündnisse brauchen allerdings noch mehr Sichtbarkeit und müssen von einer größeren Basis getragen und genutzt werden. Insgesamt brauchen wir mehr digitale Köpfe in den Führungsetagen in den Unternehmen und in der Politik, um die so wichtige und anspruchsvolle Aufgabe der digitalen Transformation in und für Deutschland erfolgreich umzusetzen.

Peter Gentsch

Zur Person
Prof. Dr. Peter Gentsch ist Mitgründer und Partner der Digital Transformation Group und Inhaber des Lehrstuhls für internationale Betriebswirtschaftslehre an der HTW Aalen mit dem Schwerpunkt digitale Transformation.