Dekarboniserung ist wichtiger Wettbewerbsfaktor − Experte für nachhaltiges Bauen im Interview

Die Zentrale von Drees & Sommer wurde als Plusenergiehaus konzipiert und erzeugt mehr Energie, als sie verbraucht. Foto: Jürgen Pollak, Drees & Sommer

Der Dekarbonisierung war beim Weltmarktführergipfel ein eigenes Programm gewidmet. Peter Mösle, Partner bei Drees & Sommer, erläutert, welche Auswirkungen das Thema auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen hat.

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen für die Dekarbonisierung der Industrie?

Peter Mösle: Neben der Substitution von klimaschädlichen Gasen wie SF6 oder HFKW in der Produktion ist die größte Herausforderung für die Industrie die grüne Wärmewende – weg von fossilen Rohstoffen hin zu erneuerbaren Quellen. Ohne regenerative Wärmenetze und maximale Erhöhung der Energieeffizienz ist eine erfolgreiche Transformation hin zu einem klimaneutralen oder gar klimapositiven Wirtschaften kaum machbar. Öl, Kohle und Gas sind dabei immer noch stark dominierend. Die erneuerbaren Alternativen Geothermie, Biomasse und thermische Solarenergie sind zwar erprobt – jedoch weit weg von einer schnellen Skalierung. Hinzu kommt der Zeitfaktor: Uns bleiben nur noch 20-25 Jahre, um das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 / 2050 zu erreichen. Bedenkt man, dass Industrieunternehmen bei ihren Standorten mit einem Lebenszyklus von 30 oder 40 Jahren für den Umbau kalkulieren und ihre Investitionen entsprechend langfristig planen, so müssen sie eigentlich schon gestern konkrete Maßnahmen in ihre Infrastrukturen getroffen haben, um die Ziele zu erreichen. Durch die Ukraine-Krise ist hier einiges in Bewegung gekommen, jedoch noch lange nicht so viel wie es für die Bekämpfung des Klimawandels sein müsste.

Neben der Dekarbonisierung der industriellen Prozesse und der Energieinfrastruktur ist jedoch auch eine Rekarbonisierung erforderlich, d.h. wir müssen CO2 im Kreislauf behalten und als Stoffstrom für die Materialerzeugung nutzen. Die Grundprodukte aus der Chemie und der Bauindustrie basieren heute noch auf über 85 % Primärmaterial, es gilt also auch eine Ressourcenwende bzw. Rekarbonisierung zu erreichen, da Ausbeutung unserer globalen Primärressourcen den Klimawandel ebenfalls weiter beschleunigt und unsere Resilienz verringert.

Welche Branchen sind am stärksten von der Dekarbonisierung bzw. Rekarbonisierung betroffen und wie können sie ihre CO2-Emissionen reduzieren?

Mösle: In erster Linie betrifft es natürlich die energieintensiven Wirtschaftsbereiche wie Chemie-, Stahl- oder Zementproduktion. Aufgrund des hohen Energieverbrauch stoßen sie enorme Menge an Treibhausgasemissionen aus. Die Zementindustrie steht dabei mit weltweit rund 2,8 Gigatonnen CO2-Emissionen ganz vorne. Auch der Bausektor gilt mit rund 40 Prozent als einer der größten CO2-Emittenten. Gleichzeitig zählen sie zu den Branchen, die ihre Wertschöpfungsketten nicht einfach von heute auf morgen völlig auf klimaneutral umstellen können. Hier braucht es innovative Lösungen und neue Partnerschaften über die eigentlichen Branchen hinweg. Kann zum Beispiel CO2 aus der Zementherstellung für die Produktion von Kunststoffen oder E-Fuels nutzbar gemacht werden?

Welche Technologien und Innovationen gibt es bereits, um die Dekarbonisierung bzw. Rekarbonisierung in der Wirtschaft voranzutreiben?

Mösle: Für den Umbau der Energieinfrastruktur in den Industriestandorten sind nahezu alle Technologien schon vorhanden. Es kommt viel mehr darauf an, diese Technologien so zu kombinieren, so dass sie zum einen wirtschaftlich tragfähig sind und zum anderen auch allen anderen Zukunftsanforderungen wie Prozessabläufen oder New Work-Aspekte gerecht werden. Dies sind komplexe Fragestellungen, da wir hier von einem technischen Masterplan für die große Transformation für den gesamten Standort sprechen, der auf mehrere Jahre angelegt ist. Wir unterstützen Industrieunternehmen mit unseren digitalen Lösungen z. B. für Energiesimulationen oder Cradle to Cradle®-Materialpässen für Industrieprodukte, Gebäude und Infrastrukturen, um sehr schnell Transparenz zum Status quo zu erzielen und daraus den Transformations-Pfad für die Dekarbonisierung abzuleiten. In Verbindung mit der jeweiligen Nachhaltigkeitsstrategie des Unternehmens entwickeln wir dann daraus den konkreten Masterplan für den Standort.

Wie können Unternehmen ihre Mitarbeiter und Kunden in die Dekarbonisierung einbeziehen?

Mösle: Die Transformation, die Industrieunternehmen bevorsteht, ist sehr weitreichend – und sie ist ohne die Mitarbeitenden nicht zu stemmen. Neben dem Umbau der Standorte gilt es daher, im Rahmen der unternehmerischen Nachhaltigkeitsstrategie ihnen das richtige Mindset zu vermitteln und über eine inspirierende Strategie mit ins Boot zu holen. Vom E-Bike für den Arbeitsweg bis zum Verzicht auf Plastikflaschen in der Kaffeeküche gibt es zudem viele Kleinigkeiten, die zur richtigen Einstellung und zur Erreichung des großen Ziels der Klimaneutralität beitragen. Die Kunden und Stakeholder einzubeziehen sind natürlich ebenfalls enorm wichtig – heute wird dies in Form einer sogenannten Wesentlichkeitsanalyse ermittelt, welche nachhaltige Ausrichtung für den zukünftigen Geschäftserfolg überhaupt prioritär ist.

Welche Auswirkungen hat die Dekarbonisierung auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen?

Mösle: Dass ein Unternehmen nachhaltig wirtschaftet und einen positiven Einfluss auf Umwelt und Gesellschaft hat, ist wichtiger denn je für den Geschäftserfolg. In den kommenden zwei Jahren werden nahezu alle Unternehmen über den EU Green Deal verpflichtet, im Rahmen der CSRD (Corporate Sustainability Reporting Directive) über ihre Unternehmensnachhaltigkeit zu berichten. Dies ist also ein Muss. Um sich am Markt jedoch vom Wettbewerb unterscheiden zu können, wird es für Unternehmen umso wichtiger sein, eine individuelle Nachhaltigkeitsstrategie zu haben, die den Kunden und allen Stakeholdern erklärt, wo das Unternehmen z. B. im Jahr 2030 stehen möchte. Das Thema Dekarbonisierung und Nachhaltigkeit ist damit als wichtiger Wettbewerbsfaktor angekommen, bei den Kunden und auch den heutigen und zukünftigen Mitarbeitenden.

Wie können wir den Übergang zu einer dekarbonisierten Wirtschaft so gestalten, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben und neue entstehen?

Mösle: Aus meiner Sicht hat dies mit der Dekarbonisierung erstmal gar nichts zu tun. Unternehmen mussten schon immer und müssen auch in Zukunft ihre Geschäftsmodelle an den Markt anpassen. Da wir jedoch über die größte Transformation seit der Industrialisierung reden, ist die Aufgabe deutlich komplexer als in den vergangenen 150 Jahren.

Beim Weltmarktführer-Gipfeltreffen in Schwäbisch Hall waren zahlreiche Weltmarktführer aus der Region Heilbronn-Franken vor Ort. Wie denken Sie, ist die Region und das Land Baden-Württemberg hier aufgestellt?

Mösle: Baden-Württemberg ist auf einem sehr guten Weg und teilweise sogar Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit. Zum Beispiel hat Baden-Württemberg letztes Jahr als erstes Bundesland eine Photovoltaikpflicht für Wohngebäude und inzwischen auch für nicht-Wohngebäude eingeführt. Mit Initiativen wie dem Klimabündnis Baden-Württemberg motiviert und unterstützt das Land zudem auch Unternehmen aus der Region bei der Erreichung der politischen und unternehmerischen Klimaschutzziele.

In der Region der Weltmarktführer haben auch viele Industrieunternehmen schon ihre Nachhaltigkeitsstrategie entwickelt, wenngleich die eigentliche Umsetzung bei den meisten noch nicht so richtig gestartet ist. Es gibt noch viel zu tun, vor allem im Industriemittelstand – dies gilt aber natürlich für ganz Deutschland und Europa.

Welche konkreten Schritte können Unternehmen der Region in die Wege leiten, um die Dekarbonisierung voranzutreiben?

Mösle: Im ersten Schritt gilt es Status quo zu analysieren, um zu wissen, wo man auf dem Weg zur regenerativen Industrialisierung steht. Durch welche Unternehmensprozesse entstehen die größten CO2-Emissionen? Wie sehen die bisherigen Nachhaltigkeitsaktivitäten an den Standorten aus? Wo sind die wichtigsten Stellschrauben, die direkt zur Reduzierung des eigenen CO2-Fußabdrucks führen? Inzwischen gibt es auch CO2-Pfade 2020 bis 2050, die man als Benchmarks für die Unternehmensebene (z.B. SBTI) oder für die Gebäudeinfrastruktur (z.B. CRREM) hierfür gut einsetzen kann. Nachdem die Zielpfade aufgestellt und diese Fragen beantwortet sind, geht es im nächsten Schritt darum, konkrete Maßnahmen zu planen und umzusetzen. Je nachdem, ob es sich um eine eher strombasierte oder eine wärmegeführte Industrie handelt, bieten sich dabei verschiedene Ansätze an. Wichtig ist nur, dass der Umbau der Infrastruktur relativ schnell startet.

Gibt es hier Vorzeigeunternehmen und -projekte, die es zu nennen gibt?

Mösle: Definitiv. Im Bereich der Baustoffproduktion zählen dazu zum Beispiel Hersteller wie Tarkett, Schüco oder Lindner, die Großteil ihrer Produkte nach dem Cradle to Cradle-Designprinzip, also kreislauffähig und klimaneutral, gestalten und zertifizieren lassen. Diese Produkte können in nachhaltigen Projekten eingesetzt werden und tragen zur Klimafreundlichkeit bei. Bauvorhaben wie Moringa in Hamburg, das Huthmacherhaus in Berlin oder das Feuerwehrhaus Straubenhardt hier im Ländle sind bester Beweis dafür. Aber auch Unternehmen wie Ritter Sport oder Reifenhersteller Schwalbe gehen in Sachen Nachhaltigkeit sowohl an ihrem Industriestandort mitsamt ihrer Gebäude als auch mit ihren Produkten mit gutem Beispiel voran.

Interview: Teresa Zwirner

Zur Person

Dr.-Ing. Peter Mösle ist Geschäftsführer der EPEA GmbH, Partner der Drees & Sommer SE und Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB).