Gegenentwurf zum Urbanen

Die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ soll die Entwicklungschancen des ländlichen Raums verbessern. Doch der ist gar nicht so abgehängt, wie manche Diskussion vermuten lässt. Vor allem aber: Wir müssen aufhören, in der Schablone „Urban Life gleich zukunftsgewandt, Dorfleben gleich rückständig“ zu denken.

Die Fläche Deutschlands wird zu mehr als 90 Prozent von Gemeinden gebildet, die dem ländlichen Raum zuzuordnen sind, 60 Prozent der Bundesbürger leben in Dörfern, Kleinstädten und kleineren Mittelstädten. Das „flache Land“ ist auch Standort des produzierenden Gewerbes und des Handwerks – 46 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts werden hier erwirtschaftet. Vielfach finden sich in ländlichen Regionen „Hidden Champions“, Unternehmen mit einem Platz weit oben an den internationalen Märkten und mit enormer Innovationskraft. Die Region Heilbronn-Franken steht als ein solches Beispiel ländlich geprägter Räume, deren dezentrale, mittelständische und diversifizierte Wirtschaftsstruktur Teil des Fundaments ist, auf dem die wirtschaftliche Stabilität der Bundesrepublik ruht. Die kommunal Verantwortlichen in mancher strukturell schwachen Großstadt des Ruhrgebiets dürften mit gewissem Neid auf dieses Stück Provinz schauen.

Nicht zuletzt die Einsetzung der Expertenkommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ durch die Bundesregierung hat das Verhältnis von Stadt und Land wieder stark in die öffentliche Diskussion gerückt. Wird der ländliche Raum von der wirtschaftlichen Entwicklung und von der Innovationsdynamik in den Großstädten abgehängt? Liegen das Wohl der Menschen, der garantierte Zugang zu Bildung und Arbeit in den urbanen Zentren? Das sind Fragen, die sich mit der aktuellen Stadt-Land-Debatte verbinden. In dieser werden Stadt und Land nicht selten als Gegenpole gesehen und es fokussiert sich die Betrachtung der jeweiligen Zukunftschancen auf das Ökonomische. Gewiss sind Infrastrukturen in den Ballungszentren wirtschaftlicher zu betreiben, weil ihre Kosten auf mehr Zahler verteilt werden können. Dagegen fehlt im ländlichen Raum dem dort so wichtigen Glasfaserausbau häufig die Rendite sichernde kritische Masse an Kunden.

Regionale Wirtschaft und Wertschöpfung

Doch Deutschland braucht neben seinen Metropolzentren und den Großstädten auch die ländlichen Regionen, die Dörfer und kleinen Städte. Keinesfalls als Freilichtmuseen, schon eher als Gebiete der Naherholung, auf jeden Fall als Raum, wo, wer will, den Gegenentwurf zum urbanen Leben leben kann. Der ländliche Raum auch als der Ort, wo sich, zugunsten der Stadt, regionale Wirtschaft und Wertschöpfung entwickeln können – etwa im Bereich der regenerativen Energierzeugung wie bei der Nahrungsmittelproduktion.

Dies kann und soll einschließen, dass sich ländliche Gemeinden aktiv darum bemühen, auch städtische Lebensstile zu etablieren, um gerade junge stadtaffine Arbeitnehmer am Ort zu halten oder sie überhaupt anzulocken. Denn immerhin 78 Prozent der Deutschen, darunter viele Großstädter, würden laut einer aktuellen Umfrage von Infratest Dimap am liebsten in einem Dorf beziehungsweise einer Kleinstadt leben. Es gilt also, die dörflichen und städtischen Zentren zu stärken, städtebaulich, kulturell, gesellschaftlich und mit Blick auf die digitalen Technologien. Bei allem geht es auch darum, die Balance von Stadt und Land im Sinne des Ideals einer differenzierten Gesellschaft zu begreifen.

Wolfram Markus

Zur Person
Wolfram Markus ist Chefredakteur der Fachzeitschrift „der gemeinderat“, die sich an Entscheidungsträger in Kommunalpolitik, Kommunalverwaltungen und kommunalen Unternehmen richtet. Seit sechs Jahrzehnten befasst sich das Magazin aus dem Hause pVS – pro Verlag und Service GmbH & Co. KG mit Trends und Entwicklungen im kommunalen Sektor.