Gerangel um Studierende?

Prof. Dr.-Ing. Oliver Lenzen, Rektor der Hochschule Heilbronn: Das Angebot bedient die Bereiche, die in der Wirtschaftsregion Heilbronn-Franken gefragt sind. Foto: Billdungscampus, Roland Halbe

Heilbronn zieht mit neuen Bildungsangeboten immer mehr junge Menschen an. Hochschulrektor Prof. Oliver Lenzen begrüßt diese Entwicklung und freut sich auf einen belebten Wettbewerb.

Heilbronn positioniert sich immer stärker als Wissens- und Bildungsstadt. Was sind dabei aus Ihrer Sicht die bislang größten Erfolge? Und wo gibt es noch Nachholbedarf?

Prof. Dr.-Ing. Oliver Lenzen: Einer der größten Erfolge ist sicherlich die Tatsache, dass Wissenschaft und Bildung mit dem Bildungscampus einen herausgehobenen Platz in der Stadt gefunden haben. Nicht nur räumlich, sondern auch ideell sind diese Themen ins Zentrum der Stadt gerückt. Auch die Hochschule Heilbronn ist hier inzwischen mit 3300 Studierenden und zwei wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten vertreten. Wir teilen uns mit den anderen hier vertretenden Institutionen einen Campus, die Bibliothek LIV, eine Mensa – dadurch entsteht auf dem Bildungscampus eine bemerkenswerte Wissenskultur. Jetzt geht es darum, diese Kultur weiter zu pflegen, Synergien zu nutzen und die Zusammenarbeit der Institutionen auf die nächste Stufe zu heben. Kooperationen gibt es schon einige – hier gilt es anzuknüpfen. Von großer Bedeutung ist dabei auch der Verein Wissensstadt Heilbronn, in dem sich insgesamt 12 Institutionen zusammengeschlossen haben, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, auch die Stadtgesellschaft noch weiter einzubinden und die Allgemeinheit an diesen spannenden Entwicklungen im Bereich Wissenschaft und Bildung teilhaben zu lassen. Ich würde also nicht von Nachholbedarf sprechen, sondern von schlummernden Potenzialen, die nur darauf warten, gehoben zu werden. Daneben arbeitet die HHN auch in verschiedenen anderen Projekten intensiv mit der Stadt zusammen, zum Beispiel beim „Testfeld Autonomes Fahren Baden-Württemberg“, kurz TAF-BW.

Mit dem Campus der TU München wurde Heilbronn Universitätsstadt. Ab 2021 kommt mit der Ecole 42 eine neue Programmierschule in die Stadt. Betrachten Sie diese Ansiedlungen als Bereicherung oder als Konkurrenz im Wettbewerb um Studierende?

Lenzen: Als klare Bereicherung, die den Namen Heilbronn als Wissens- und Bildungsstadt nochmal ein Stückchen mehr mit Leben füllen. Ein wenig Konkurrenz um die besten Köpfe wird es schon geben, aber das ist auch gut so. Im Gegensatz zur TU München und vor allem zur Ecole 42 – die ja ein ganz anderes Lehrkonzept verfolgt und keine akademischen Abschlüsse vergibt – ist die Hochschule Heilbronn wesentlich breiter aufgestellt. Mit unseren Schwerpunkten in Technik, Wirtschaft und Informatik bedienen wir die Bereiche, die in der Wirtschaftsregion Heilbronn-Franken am stärksten nachgefragt werden. Zudem sind wir mit rund 8200 Studierenden die größte Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Baden-Württemberg. Unsere Studierenden werden nicht nur bestens auf den Arbeitsmarkt vorbereitet, sondern bekommen auch die Gelegenheit an der Forschung, die an der Hochschule Heilbronn stattfindet aktiv teilzuhaben und sich mit zukunftsrelevanten Themen auseinanderzusetzen. Die Angebote der TU München und der Ecole 42, mit denen wir auch bereits kooperieren, bereichern unser Portfolio. Ich würde daher eher von einem gesunden Wettbewerb und einem konstruktiven Miteinander der verschiedenen Institutionen sprechen, als von Konkurrenz.

Wie entwickeln sich die Studierendenzahlen an der Hochschule Heilbronn? Sind Trends in bestimmten Bereichen erkennbar?

Lenzen: Unsere Studierendenzahlen sind recht stabil, und liegen bei circa 8500. Vor allem unsere wirtschaftswissenschaftlichen und informationstechnischen Studiengänge sind seit Jahren sehr nachgefragt. Vor allem im Bereich der IT können wir die Nachfrage aus der Wirtschaft derzeit kaum befriedigen. Deshalb freue ich mich, dass das Land Baden-Württemberg der HHN – neben zwei weiteren Hochschulen für Angewandte Wissenschaften im Land, 20 neue Studienplätze im Bereich IT zugesagt hat. Wir waren dafür schon länger mit dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst im Gespräch und konnten mit unserer IT-Strategie überzeugen. 20 neue Studienplätze sind zwar nicht viel, aber ein guter Anfang, auf dem wir aufbauen werden.

Die Hochschule ist Teil des Verbunds „Startup­City“. IT-Schwergewichte wie Bechtle sind aus der HHN hervorgegangen. Wie ausgeprägt ist der unternehmerische Mut unter den Studierenden?

Lenzen: Aktuell beobachten wir, dass gerade die Corona-Pandemie bei vielen jungen Menschen unserer Hochschule neue Denkprozesse anregt. Die letzten Monate haben ihnen gezeigt, welche Stärken unsere Gesellschaft hat, aber auch, welche Schwächen. Ganz klar können wir das Selbstbewusstsein unserer Studierenden erkennen, die „neue Normalität“ mitzugestalten. Das Startklar Gründer­zentrum der Hochschule Heilbronn verzeichnet eine sehr deutliche Steigerung an gründungsrelevanten Anfragen und Themen­stellungen und hat seit April dieses Jahres sowohl das Lehrangebot als auch die Kontakte zu den Studierenden intensiviert. Das Angebot für Beratungen im Kontext des Gründungsprozesses wird im Vergleich zum Vorjahr etwa 30 Prozent stärker genutzt. Die Plätze für die entsprechenden Veranstaltungen des gerade gestarteten Wintersemesters – sowohl allgemeine Einführungen, methodenspezifische Kurse als auch konkrete inhaltliche Workshops – waren innerhalb weniger Stunden vollständig ausgebucht. Ein besonderes Interesse ist vor allem bei Angeboten zu den Themen Gründerpersönlichkeit sowie „Female Empowerment“, Befähigung von jungen Frauen, zu beobachten. Wir als Hochschule versuchen selbstverständlich, diese Dynamik aufzunehmen und die Studierenden dazu zu befähigen, Selbstwirksamkeit und Innovationskraft zu entwickeln.

Forschung ist ein integraler Bestandteil der HHN. Wie gelingt der Transfer in die Unternehmen? Haben Sie Beispiele?

Lenzen: Der Technologietransfer in die Unternehmen erfolgt bei uns auf mehreren Ebenen. Teilweise erhalten wir direkt aus der Industrie Aufträge, bei denen es darum geht, klar definierte und abgegrenzte Problemstellungen zu bearbeiten. Das können beispielsweise Material- und Werkstoffprüfungen, Simulationen oder Entwicklung und Herstellung von Prototypen sein. Komplexere Fragestellungen, die einen deutlich höheren Forschungsbedarf aufweisen, bearbeiten wir vor allem innerhalb von größeren Konsortien mit Hilfe von finanziellen Fördermitteln. Hierzu gehören beispielsweise Studien oder auch geförderte Forschungs- und Entwicklungsprojekte, die solche Zukunftsthemen wie Künstliche Intelligenz (KI), automatisiertes und autonomes Fahren oder virenfreie Raum- und Atemluft aufgreifen. Besonders stolz bin ich darauf, dass bei uns aktuell höchstrelevante Forschungen betrieben werden, die einen Beitrag zur Eindämmung und Bekämpfung der Pandemie leisten. So zum Beispiel das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Projekt „Bio-Protect-Mask“ von Prof. Jennifer Niessner zur Evaluation von üblichen Corona-Schutzmasken und zur Entwicklung von neuartigen Masken sowie das Projekt „Digitaler Infektionsschutz Heilbronn“, kurz DITCH, von Prof. Wendelin Schramm, Prof. Martin Haag und Prof. Christian Fegeler in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt Heilbronn mit dem Ziel, neue lokale Ausbrücke des Covid-19-Virus effizient und schnell einzudämmen. Eine weitere Möglichkeit zum Technologietransfer ist es, die wichtigen Akteure und Partner aus der Industrie auf dem Campus zu integrieren, um eine räumliche Nähe herzustellen und damit weitere Synergien freizusetzen und zu nutzen.

Künstliche Intelligenz, Digitalisierung, Automatisierung – all das befeuert einen Strukturwandel und bedroht auch Arbeitsplätze. Können Sie verstehen, dass manche Menschen diese Entwicklungen durchaus kritisch und mit Sorge betrachten?

Lenzen: Grundsätzlich erzeugen die Änderungen Ängste und Sorgen, das ist verständlich. Die von Ihnen angesprochenen Innovationen und Technologieveränderungen finden allerdings eher unabhängig von den lokalen und regionalen Gegebenheiten statt. Für unsere Region und für das Land Baden-Württemberg bedeutet das vielmehr eine Chance, zukunftsfähig zu bleiben und die Arbeitsplätze in der Region langfristig zu erhalten.

Wie betrachten Sie die Zukunftstechnologien persönlich? Hätten Sie gerne ein selbstfahrendes Auto oder einen digitalen Assistenten, der Ihnen manche Tätigkeiten abnimmt?

Lenzen: Viele Zukunftstechnologien haben bereits in unser persönliches Leben und in den Alltag Einzug erhalten; ein selbstfahrendes Auto noch nicht, aber zahlreiche Instrumente – wie zum Beispiel ein intelligenter Tempomat oder Sprachsteuerung – sind durchaus bewährte Hilfsmittel. Ein selbstfahrendes Auto ist momentan schwer vorstellbar, besonders im innerstädtischen Personen- und Güterverkehr. Allerdings ist es zukünftig denkbar, dass diese Zukunftstechnologien zur Lösung der Mobilitätsfrage in Großstädten aber auch im ländlichen Raum einen bedeutenden Beitrag leisten werden.

Ein Forschungsschwerpunkt betrifft das Thema Gesundheit. Welchen Beitrag leistet die HHN aktuell im Kampf gegen das Corona Virus?

Lenzen: Die Hochschule Heilbronn ist mit mehreren Forschungsprojekten im Kampf gegen das Virus dabei. Neben den bereits genannten Projekten „Bio-Protect-Mask“ von Prof. Jennifer Niessner und DITCH von Prof. Wendelin Schramm, Prof. Martin Haag und Prof. Christian Fegeler, sind wir auch mit verschiedenen Unternehmen der Region im Gespräch, um weitere Kooperationen anzubahnen, unter anderem zur Erforschung der Effizienz von Raumfiltern.  Prof. Niessner gehört darüber hinaus dem neu gegründeten „Expertenkreis Aerosole“ des MWK an, der verschiedene Schutzmaßnahmen oder deren Kombinationen hinsichtlich des Infektionsschutzes, unter Berücksichtigung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse, neu bewerten soll. Daneben leistet auch die Hochschule Heilbronn selbst, als Organisation mit circa 10.000 Mitgliedern, aktiven Infektionsschutz. Wir haben im März unverzüglich mit dem Einführen eines Notbetriebs reagiert. Das heißt, wir haben versucht, die persönlichen Kontakte auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Die Lehre wurde zunächst auf ein reines Online-Format umgestellt, damit unsere Studierenden keinem Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Zudem sind alle Mitarbeiter der Hochschule ins Home-Office geschickt worden. Meetings, Sitzungen und Absprachen finden bis heute soweit möglich über Online-Tools statt. Im Gebäude geltenden generell die AHA+L-Hygienemaßnahmen: Abstand, Hygiene, Alltagsmaske und Lüften. Zuletzt haben wir ein Ampelsystem, zur Arbeitsorganisation der Hochschulverwaltung und der Fakultäten eingeführt. Die Hochschulleitung nimmt jeweils dienstags eine Bewertung auf Basis der aktuellen Lage vor und kommuniziert gegebenenfalls Änderungen. Diese werden jeweils am drauffolgenden Montag wirksam. So bedeutet Rot ein hohes Infektionsgeschehen mit absolutem Notbetrieb, Orange ein erhöhtes Infektionsgeschehen. Home-Office ist möglich, mit Einhaltung der geltenden Corona-Verordnungen. Haben wir die gelbe Stufe, ist das mobile Arbeiten nicht immer möglich, gemäß den geltenden Corona-Verordnungen und bei Grün herrscht Normalbetrieb. Bislang gilt selbstverständlich die Stufe Rot.

Interview von Dirk Täuber