Deutschlands Beschäftigte reagieren auf die anhaltenden Krisen mit steigendem Stresslevel. Doch gute Führung kann Stress reduzieren und die emotionale Bindung ans Unternehmen steigern.
Der Dauerkrisenmodus, in dem sich die Welt befindet, wird auch in den Unternehmen in Deutschland zunehmend spürbar: Der Stresslevel der Arbeitnehmenden hierzulande hat seit dem letzten Jahr um zwei Prozentpunkte auf 42 Prozent zugelegt und liegt damit über dem europäischen Durchschnitt (39 Prozent). Gleichzeitig ist die emotionale Bindung gering. Dazu trage vor allem die am Arbeitsplatz erlebte Führung bei. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt allerdings wird von deutschen Beschäftigten positiv bewertet. Das zeigt der neue Gallup-Bericht „State of the Global Workplace 2023″, für den 122.416 Arbeitnehmende in 145 Ländern unter anderem zu den Themen Arbeitsmarkt, emotionale Mitarbeiterbindung sowie den Gefühlsdimensionen Stress und Wut befragt wurden.
Die gute Nachricht: Mit 39 Prozent geben weniger europäische Beschäftigten an, unter Stress zu leiden als der globale Durchschnitt (44 Prozent). Die schlechte Nachricht: Das Stresslevel in Deutschland ist nach dem Ende der Corona-Krise gestiegen (+2 Prozent) und bewegt sich im europäischen Vergleich mit 42 Prozent im vorderen Drittel. In den anderen Ländern des DACH-Raums dagegen hat sich die Lage im Vergleich entspannt. In Österreich gaben laut dem Gallup-Bericht 36 Prozent an, sich gestresst zu fühlen (-1 Prozent), in der Schweiz 35 Prozent (-5 Prozent). Innerhalb der Länder der G7 (Deutschland, Vereinigtes Königreich, Frankreich, Italien, USA, Kanada und Japan) ist Deutschland damit im Mittelfeld (G7 insgesamt: 47 Prozent). Kanada (56 Prozent) und die USA (53 Prozent) führen die Liste an, Italien liegt mit 46 Prozent gestresster Arbeitnehmender noch vor Deutschland. Das Stresslevel der Beschäftigten in Japan entspricht dem der Deutschen, es folgen im G7-Ranking Frankreich (40 Prozent) und das Vereinigte Königreich (38 Prozent).
Steigende Stresslevel, sinkende emotionale Bindung
Der gestiegene Stresslevel komme nicht von ungefähr und gehe einher mit einer geringen emotionalen Bindung deutscher Beschäftigter an ihren Arbeitgeber. „Hier macht vor allem die Qualität der erlebten Führung den Unterschied. Beschäftigte, die von guter Führung berichten, fühlen sich weniger gestresst und mehr gebunden als Beschäftigte, deren emotionale Bedürfnisse am Arbeitsplatz übersehen oder ignoriert werden. Für die letzten drei Jahre sehen wir einen kumulierten Wert von 16 Prozent, tatsächlich aber war die hohe emotionale Bindung in Deutschland 2022 in der Einzelbetrachtung so niedrig wie seit 2012 nicht mehr“, sagt Marco Nink, Director of Research & Analytics EMEA bei Gallup. „Natürlich lässt sich Stress am Arbeitsplatz nicht immer vermeiden – es kommt darauf an, wie man damit umgeht. Zeitdruck durch enge Deadlines kann sich zumindest kurzfristig positiv auf die Leistung auswirken. Wird allerdings aus der Ausnahme ein Normalzustand, den die Führungskraft nicht durch Unterstützung abfedert, kann er mittel- bis langfristig krank machen. Die Daten für Europa zeigen, dass jemand, der gestresst ist, eine zweieinhalb Mal höhere Wahrscheinlichkeit aufweist, wütend zu werden. Unternehmen müssen hier angesichts steigender Stresslevel ein waches Auge haben. Denn Wut ist nicht nur desaströs für die Unternehmenskultur, sondern oft auch disruptiv für die Arbeitsabläufe.“ Die positivste Entwicklung in Europa in Sachen Stress kann Spanien verzeichnen: Hier ist der Stress um 8 Prozentpunkte auf 36 Prozent zurückgegangen. Europäischer Spitzenreiter ist Griechenland (60 Prozent; -4), das weltweit höchste Stresslevel haben Beschäftigte in der Türkei (68 Prozent; +2).
Europa hat niedrigsten Grad der Mitarbeiterbindung
In Sachen niedriger emotionaler Bindung allerdings sind die Deutschen in Europa in gleichgesinnter Gesellschaft. Europa weist von allen zehn Weltregionen den niedrigsten Grad emotionaler Mitarbeiterbindung auf (13 Prozent gegenüber 23 Prozent weltweit). In Österreich und der Schweiz liegt der Wert mit jeweils 11 Prozent noch darunter. Innerhalb der G7 landet Deutschland auf dem dritten Platz nach den USA (34 Prozent) und Kanada (21 Prozent). Das Vereinigte Königreich weist 10 Prozent auf; Frankreich (7 Prozent), Japan (5 Prozent) und Italien (5 Prozent) schneiden deutlich unter dem europäischen Durchschnitt ab. Damit sind Frankreich und Italien nicht nur Schlusslichter in Europa, sondern gehören auch zu den Ländern, die global die schlechtesten Werte verzeichnen.
„Es werden oft kulturelle Faktoren als Grund für die niedrige emotionale Mitarbeiterbindung in Europa angegeben. Allerdings liegt das Problem nicht in der Arbeits-, sondern in der Führungskultur. Unsere Erfahrungen zeigen, dass bei Unternehmen in Deutschland, die aktiv an der Qualität der erlebten Führung und des Arbeitsumfeldes arbeiten, die emotionale Bindung ihrer Mitarbeitenden im Schnitt bei 40 Prozent liegt und sie diese im besten Fall sogar auf über 60 Prozent steigern können“, sagt Marco Nink.
Daten von Gallup zeigen auch, dass emotionale Bindung einen fast viermal so großen Einfluss auf das Stressempfinden Beschäftigter hat wie der Arbeitsort. „Was Menschen bei ihrer täglichen Arbeit erleben, ist grundsätzlich wichtiger als ihr Arbeitsort. Dieses Muster hat über alle Arbeitsformen – 100 Prozent Remote, hybrides Arbeiten und Arbeiten vor Ort – Gültigkeit. Schlechte Führung und Stress als Konsequenz werden nicht durch die Anwesenheit im Unternehmen wettgemacht, nur weil die Mitarbeitenden sichtbarer sind. In allen drei Szenarien berichten Mitarbeitende, deren emotionale Bedürfnisse übergangen werden, vom höchsten Stresslevel“, sagt Marco Nink.
Auch wenn das mobile Arbeiten keinen wesentlichen Einfluss auf das Stresslevel habe, seien Unternehmen trotzdem schlecht beraten, ihren Beschäftigten dieses Angebot nicht mehr zu machen. Denn seit der Pandemie habe sich das Homeoffice für die meisten Arbeitnehmenden bewährt. Ein Rückschritt berge das Risiko, dass Mitarbeitende das Unternehmen verlassen – und das gefährde bei der derzeitigen Situation auf dem Arbeitsmarkt die Wettbewerbsfähigkeit.
Gestiegene Wechselbereitschaft
Die geringe emotionale Bindung resultiert laut Gallup in vielen Fällen in gestiegener Wechselbereitschaft – und die meisten europäischen Beschäftigten bewerten die derzeitigen Chancen, einen neuen Job zu finden, positiv. Insgesamt 56 Prozent der Befragten sagen, es sei eine gute Zeit, den Arbeitgeber zu wechseln, ein Zuwachs von 12 Prozentpunkten gegenüber dem Vorjahr (global: 10 Prozentpunkte). Während Deutschland hier genau dem europäischen Durchschnitt entspricht (56 Prozent; +3 Prozent) und insgesamt auf Platz 6 liegt, ist das Vertrauen in den Arbeitsmarkt im Vereinigten Königreich (36 Prozent; -4 Prozent), Frankreich (35 Prozent; +3 Prozent) und Spanien (26 Prozent; -1 Prozent) deutlich geringer. Auch Beschäftigte in Österreich (50 Prozent; +1 Prozent) und der Schweiz (46 Prozent; -2 Prozent) sind weniger zuversichtlich als die Arbeitnehmenden in Deutschland. Am positivsten gestimmt sind die Dänen mit 70 Prozent, Italien liegt auf dem letzten Platz (20 Prozent; +2 Prozent).
„Wenn Arbeitgeber die emotionale Bindung aktiv fördern und sich um das Wohlergehen ihrer Beschäftigten kümmern, reduzieren sie nicht nur deren Stress, sondern stärken neben der Gesundheit und Leistungsfähigkeit auch ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitgebermarke“, sagt Pa Sinyan, Managing Partner von Gallup in EMEA. „Trifft allerdings niedrige emotionale Bindung auf ein hohes Stresslevel und werden gleichzeitig die Chancen, einen neuen Job zu finden, gut bewertet, steigt die Offenheit für einen Wechsel des Arbeitgebers. Stress ist langfristig Gift für die Unternehmenskultur und damit auch den wirtschaftlichen Erfolg.“
red.