Helmut Stettner verlässt Audi-Werk in Neckarsulm und wechselt nach China: „Ich gehe mit einem weinenden Auge“

Aus dem fernen China will Helmut Stettner das Geschehen im Audi-Werk Neckarsulm weiter aufmerksam verfolgen. Foto: Audi AG

Helmut Stettner verlässt nach fünf Jahren als Leiter des Audi-Werks in Neckarsulm den Standort, sein Nachfolger wird Fred Schulze. Ab Mai ist Stettner bereits im chinesischen Changchun, wo er eine neue Produktion mitaufbaut. Im Interview blickt er auf seine Zeit in der Region.

Herr Stettner, nun ist es Zeit zu gehen. Mit welchen Gefühlen verlassen Sie das Werk?

Helmut Stettner: An erster Stelle verspüre ich große Dankbarkeit. Ich bin sehr stolz, dass ich fünf Jahre lang Neckarsulmer Audianer sein durfte und den Standort gestalten konnte. Neckarsulm ist ein ganz besonderer Standort mit tollen Menschen, das habe ich schon an meinen ersten Tagen als Werkleiter festgestellt: Ich erinnere mich noch gut an das Hochwasser im Jahr 2016. Da gab es Mitarbeitende, die haben sich auf beeindruckende Weise dafür eingesetzt, dass wir nach einer Unterbrechung schnell wieder produzieren konnten. Hier herrscht ein toller Spirit, da werden die Ärmel hochgekrempelt. Genau das ist es, was mich immer begeistert hat und weshalb ich auch in herausfordernden Situationen wusste: Das packen wir gemeinsam an und finden eine Lösung. Ich gehe also mit einer großen Portion Wehmut und einem weinenden Auge. Das gilt übrigens auch für die Region.

Stimmt. Audi und die Region Heilbronn-Franken gehören ja untrennbar zusammen.

Stettner: Genau. Mir war immer wichtig, dass wir auch unsere gesellschaftliche Rolle als größtes Industrieunternehmen wahrnehmen und uns in der Region engagieren. Auch hier blicke ich auf tolle Momente und Begegnungen zurück, wie beispielsweise die BUGA 2019 oder zahlreiche Initiativen wie den Mobilitätspakt. Das Audi-Werk Neckarsulm hat mittlerweile eine 140-jährige Geschichte. Generationen von Menschen aus der Umgebung haben schon hier gearbeitet. Wenn wir uns als Automobilhersteller mit den Hochschulen zusammenschließen und duale Studienplätze schaffen oder, wenn wir im Bereich Sport mit Sponsorings die Aktivitäten in der Region unterstützen, profitieren davon alle.

Laut Audi-Vorstandsmitglied Peter Kössler haben Sie den Standort Neckarsulm immer sicher navigiert. Was war schwierig?

Stettner: Wir haben in den letzten Jahren am Standort einige Herausforderungen gemeinsam gemeistert. Das aktuellste Beispiel ist Corona. Doch auch schon ein Jahr nach meinem Start in Neckarsulm stand die Erneuerung der kompletten Kernbaureihen auf dem Plan. Innerhalb kurzer Zeit haben wir die Anläufe des Audi A8, der A4/A5-Familie und der A6/A7-Familie gestemmt. Vor kurzem haben wir es geschafft, den Zeitplan für den Produktionsstart des e-tron GT trotz Corona einzuhalten und die Serienproduktion wie geplant zu starten. Im vergangenen Jahr haben wir weitere wichtige Weichen gestellt: Die Nachfolger der A4- und der A6-Familie werden die Produktion in den kommenden Jahren gut auslasten. Zudem wird an vielen Stellen die Infrastruktur auch für die weitere Elektrifizierung des Standorts vorbereitet, beispielsweise mit der neuen Vorbehandlung der Lackiererei und einem neuen Multifunktionsgebäude für die Technische Entwicklung.

Gibt es etwas, das Sie gerne noch umgesetzt hätten, es aber nicht ging?

Stettner: Die Automobilbranche befindet sich in einem großen Wandel, der noch nicht zu Ende ist. Daher gibt es nicht das eine konkrete Thema, das ich unbedingt noch umsetzen wollte.

Audi Neckarsulm bewegt sich hin zur Smart Factory – wie weit ist die Produktion jetzt in dieser Hinsicht?

Stettner: Der Standort hat bereits zahlreiche digitale Lösungen in Produktion und Logistik im Einsatz. Diese werden im Rahmen der Transformation weiter gestärkt, wir qualifizieren gerade Mitarbeitende für kommende Digitalisierungsprojekte. Ziel ist es, Neckarsulm zu einem führenden Werk im Bereich „Digitale Produktion und Logistik“ zu entwickeln. Ich habe mich dafür stark gemacht und werde das aus der Ferne sehr gespannt verfolgen.

Sie betreuen ja seit August den Aufbau in Changchun kommissarisch mit. Was kommt nun auf Sie zu?

Stettner: Seit August letzten Jahres verantworte ich neben der Funktion als Neckarsulmer Werkleiter auch den Aufbau des neuen Kooperationsunternehmens in China, das Audi und der Partner FAW zur Produktion von Elektrofahrzeugen dort gründen. Mit dem neuen Unternehmen entsteht auch ein neues Produktionswerk in Changchun. Dieses spannende und für Audi strategisch wichtige Projekt mitzugestalten, ist für mich etwas ganz Besonderes. Die Chance, eine neue Firma zu gründen und ein neues Werk vom ersten Stein bis zu den ersten produzierten Autos zu begleiten, bekommt man nicht alle Tage. Natürlich waren die letzten Monate durch meine Doppelfunktion sehr intensiv. Jetzt freue ich mich sehr auf die neue Aufgabe und das Land China, das ich ja von einer früheren Station schon gut kenne.

Das Thema E-Mobilität spielt in Neckarsulm eine große Rolle, auch in China ist das Ihr Steckenpferd – inwiefern lässt sich das vergleichen?

Stettner: Die E-Mobilität spielt für den gesamten Konzern eine zentrale Rolle. Neckarsulm und das neue Werk lassen sich aber nicht 1:1 vergleichen. Mit dem e-tron GT fährt am Standort Neckarsulm zwar der erste in Deutschland gefertigte vollelektrische Audi vom Band – gleichzeitig werden in den nächsten Jahren Verbrenner auch weiterhin gefragt sein. Während Neckars-
ulm eine Mischung an Modellen haben wird, wird Changchun ein reiner Elektro-Standort. Dort gehen ab 2024 die ersten Elektroautos auf Basis der PPE (Premium Platform Electric) für den chinesischen Markt vom Band. Das ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum Anbieter nachhaltiger Premium-Mobilität und unterstreicht die Bedeutung des chinesischen Marktes, in dem die E-Mobilität immer wichtiger wird.

Wie können Sie Ihre Erfahrungen aus Neckarsulm in Changchun einsetzen?

Stettner: In vielerlei Hinsicht: Die zahlreichen Produktionsanläufe habe ich schon erwähnt, die Erfahrung daraus hilft mir, wenn die ersten Modelle dort anlaufen. Aus den fünf Jahren in der Region nehme ich natürlich noch vieles mehr mit. Man wächst ja mit jeder Herausforderung auch persönlich.

Apropos persönlich. Was machen Sie, wenn Sie nicht gerade für Audi unterwegs sind?

Stettner: Ich bin seit sechs Jahren aktives Mitglied im Rotary Club und halte immer wieder auch Vorträge. Außerdem bin ich jedes Jahr bei der Rotary Charity Classics dabei, einer Oldtimerrallye für gute Zwecke. Einmal bin ich sie mit meinem Sohn gefahren und wir haben sogar gewonnen. Die Rallye weckt einerseits den sportlichen Ehrgeiz und ist gleichzeitig mit viel Liebe organisiert. In diesem Umfeld fühle ich mich sehr wohl. Daher ist es sehr schade, dass die Rallye aufgrund der Corona-Pandemie letztes Jahr nicht stattfand. Neben Autos interessiere ich mich auch sehr für Motorräder. Ich habe immer noch meine Honda CB 900 F, die ich mir als 19-Jähriger gekauft habe. Aber sonst fahre ich Ducati. An Wochenenden treffen meine Frau und ich uns meistens mit unseren zwei Jungs oder auch Freunden. Und als Ausgleich zur Arbeit bin ich auch hin und wieder bei der Gartenarbeit oder beim Heimwerken anzutreffen.

Nochmal zurück zur Ausgangsfrage: Wenn Fred Schulze im Mai die Werkführung übernimmt, was findet er vor?

Stettner: Natürlich wird sich auch in Zukunft noch einiges ändern; diese Transformation haben wir ja alle gemeinsam hier so vorangetrieben. Wir haben uns in den letzten Wochen intensiv ausgetauscht. Fred Schulze war mein Vorgänger in der Funktion und kennt Neckarsulm aus dem Effeff. Aus meiner Sicht darf er sich darauf freuen, die Transformation in den Bereichen Digitalisierung und Elektrifizierung weiter voranzutreiben und auch den Anlauf der kommenden Modelle. Er wird seine langjährige, auch internationale Erfahrung hier gewinnbringend einbringen. Der Standort und die Region können sich auf die Zukunft freuen.

Interview: Melanie Boujenoui