Höchste Zeit für Masterplan

Was für die meisten von uns eine Selbstverständlichkeit ist, bleibt für andere ein Wunschtraum. Die Rede ist nicht von Autos, einem prallgefüllten Konto oder etwa der Möglichkeit, ferne Länder zu bereisen. Es geht um ein menschliches Grundrecht: Wohnraum.

So ein Stress, ich könnte heulen“, schimpft Katja Frank, lässt sich auf den glänzenden Parkettboden sinken und vergräbt ihr Gesicht in den Händen. Die 30-Jährige und ihr Mann sind zwei Tage zuvor in ihre neue, frisch gebaute Penthouse-Wohnung in Heilbronn gezogen. Überall finden sich Kartons vollgestopft mit teurem Inhalt und Teile von Hülsta- sowie Voglauer-Möbeln. 120 Quadratmeter Wohnfläche stehen dem Ehepaar zur Verfügung inklusive Kellerabteil, Tiefgaragenstellplatz, Balkon und Dachterrasse. „Ich kann nicht mehr, dieser Umzug raubt mir den letzten Nerv“, schluchzt Frank. Ihr Mann nimmt sie in den Arm und versucht, sie zu beruhigen: „Sobald wir alles aufgebaut und ausgepackt haben, gehen wir für ein paar Tage in ein Wellnesshotel, Schatz.“

Zur gleichen Zeit am Rande der Stadt: Ursula Bauer muss ihre 25 Jahre alte Einzimmerwohnung räumen, weil das Haus, in dem sich diese befindet, abgerissen werden soll. Der Gebäudekomplex soll Platz machen für einen schickeren Bau mit Eigentumswohnungen. Wo sie unterkommen soll, weiß die 55-Jährige noch nicht. Bauers Gehalt reicht nicht – für 90 Prozent der Wohnungen auf dem Markt. Doch statt in Selbstmitleid zu baden, strafft sie die Schultern und sagt zu sich selbst: „Das schaffe ich irgendwie, ich werde schon nicht auf der Straße hausen müssen.“

Auch wenn beide Szenarien fiktiv sind, so sind sie nicht an den Haaren herbeigezogen. Wohnungsnot ist ein real existierendes Thema in ganz Deutschland, vor dem die Politik viel zu lange die Augen verschlossen hat. „Zwar wird das Problem des mangelnden bezahlbaren Wohnraums leider oft mit Flüchtlingen in Verbindung gebracht, was nicht gerechtfertigt ist, denn das Problem verschärfte sich schon seit vielen Jahren, trotzdem wurde nichts unternommen, um die laufend sinkende Zahl der Sozialwohnungen zu stoppen. Doch zumindest ist der Handlungsbedarf durch die Einwanderungswelle endlich erkannt worden“, ist Silke Ortwein, Gewerkschaftssekretärin der Regionsgeschäftsstelle Heilbronn des Deutschen Gewerkschaftsbundes, überzeugt. Da das Problem verschlafen wurde, ist nun die Zahl derjenigen, die auf Sozialwohnungen angewiesen sind, alarmierend hoch – und die Dunkelziffer liege wie immer noch höher. „In Heilbronn werden jährlich 700 Wohnberechtigungsscheine beantragt“, weiß Ortwein. „Demgegenüber sind es nur etwa 100 Wohnungen jedes Jahr, die seitens der Stadtsiedlung neu zur Vermietung anstehen“, ergänzt sie.

Damit sich die Wohnungsnot – vor allem in der Käthchenstadt und im Heilbronner Land – nicht noch weiter zuspitzt, hat sich bereits 2014 das Heilbronner Netzwerk Wohnen mit Mitgliedern wie der Aufbaugilde, der Diakonie, den Nordstadtbürgern und der Nikolaigemeinde gegründet – und drei Hauptziele definiert: faires Wohnen, die Einrichtung eines Wohnungsamts für Heilbronn sowie die Einführung einer Investorenquote für Sozialwohnungen. Diese liegt bei 33 Prozent. Wichtig für Ortwein und die anderen Netzwerkmitglieder ist, dass Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen gestoppt werden und verstärkt auf dezentrale Unterbringung von Asylbewerbern gesetzt wird. Es müsse Ersatz geschaffen werden, bevor Wohnraum wegfällt. Leerstände müssen verhindert werden. „Doch die Wohnqualität darf darunter nicht leiden, was bedeutet, dass auf eine gute Durchmischung geachtet und der Charakter bestehender Gebiete beachtet werden sollte. Dazu ist aus unserer Sicht die Einführung einer Quote unabdingbar“, macht die Gewerkschaftssekretärin deutlich.

So löblich all diese Ansätzen sind – das Heilbronner Netzwerk Wohnen ist ein Bündnis, das ohne eigenes Budget arbeitet. „Wir versuchen, vieles selbst zu machen, mit öffentlichen Aktionen sowie Veranstaltungen und indem wir Kontakte zu politischen Entscheidern knüpfen. Doch wir können uns lediglich als Ideengeber verstehen, als diejenigen, die alle an einen Tisch bringen: Wohnbauträger, Stadt und Netzwerk“, erklärt Ortwein.

Mehr als bloß ein Ideengeber ist die Erlacher Höhe, ein diakonisches Sozialunternehmen mit Hauptsitz in Großerlach, das Standorte in beispielsweise Bad Mergentheim, Künzelsau und Schwäbisch Hall hat. „Wir beraten arbeitstäglich rund 750 Menschen, von denen viele erhebliche Nöte mit Wohnraum haben. Dazu kommen knapp 200 Besucher unserer Tagesstätten, von denen einige ebenfalls von Schwierigkeiten in Sachen Wohnen betroffen sind“, erzählt Wolfgang Sartorius, geschäftsführender Vorstand der Erlacher Höhe. Meistens gehe es um ein ganzes Bündel an Problemen, weiß der 55-Jährige aus seiner Erfahrung. Darunter sei Wohnungsmangel ein absolut existenzielles. In der Sozialen Heimstätte Erlach sind derzeit rund 90 Menschen untergebracht, informiert deren Leiter Karl-Michael Mayer. Mit anderen Worten: Alle Plätze sind belegt. Ein Zustand, der aktuell in etlichen Aufnahmehäusern der Region Einzug hält.

„Deutschland braucht einen Masterplan für den sozialen Wohnungsbau“, findet Sartorius. Dabei seien alle politischen Ebenen gefordert: Bund, Länder und Kommunen. Keine Ebene dürfe sich wegducken. „Denn Wohnen ist ein Menschenrecht, dessen Verwirklichung in unserem reichen Land für zunehmend mehr Bürger bis hinein in die Mittelschicht zum Problem wird.“

Olga Lechmann

Studie zu Wohnverhältnissen
Der Hans-Böckler-Stiftung hat in einer Studie mit einer Laufzeit vom 1. März bis zum 31. Oktober 2017 die Wohnverhältnisse in Deutschland analysiert. 77 Großstädte waren Teil des Forschungsprojektes „Sozialer Wohnversorgungsbedarf“ – darunter auch Heilbronn. Bei der Käthchenstadt wird in dem Bericht auf eine extrem hohe Mietbelastungsquote verwiesen. Mehr Informationen auf www.boeckler.de.