Was steckt hinter dem zweiten Bildungsweg? Ein Experte klärt auf.
Zunächst die Fakten: Den zweiten Bildungsweg beschreiten, nach gängigem Sprachgebrauch, diejenigen, die nach Mittlerer Reife und einer Ausbildung eine Hochschulreife erwerben mit dem Ziel einer Studienaufnahme. Üblicherweise erfolgt dies in Baden-Württemberg durch Besuch eines einjährigen Berufskollegs zum Erwerb der Fachhochschulreife – oder durch Besuch einer zweijährigen Berufsoberschule zum Erwerb der allgemeinen Hochschulreife. Erstere berechtigt zum Studium an Hochschulen für angewandte Wissenschaften; letztere zum Studium an allen Hochschularten – also auch an Universitäten und Dualen Hochschulen. Beide sind nicht fachgebunden, auch wenn sie an einer Schulart zu erwerben sind, die inhaltlich der Vorausbildung entspricht.
Zu ergänzen bliebe: Zum einen ist seit Kurzem bei Bestehen einer sog. „Deltaprüfung“ auch mit Fachhochschulreife die Aufnahme eines universitären oder dualen Studiums möglich. Zum anderen: Seit mittlerweile fast sieben Jahren ist der Nachweis einer Hochschulreife nicht mehr zwingende Voraussetzung zur Aufnahme eines Studiums: Eine Ausbildung mit entsprechender anerkannter Fortbildung – z.B. zum Meister, Technikerin oder Fachwirt – eröffnet den allgemeinen Hochschulzugang – wie das Abitur; fehlt die Fortbildung, so genügt eine dreijährige Berufserfahrung und das Bestehen einer Eignungsprüfung, um ein fachlich der Ausbildung entsprechendes Studium aufzunehmen.
Für wen ist eine Studienaufnahme von Interesse? Wer sollte diesem, nicht einfachen Weg, den Vorzug geben vor einer klassischen Weiterbildung, die nach dem europäischen Refe-renzrahmen nicht nur einem Hochschulabschluss gleichwertig ist, sondern zudem berufsbe-gleitend – also bei fortlaufendem Einkommen – absolviert werden kann und gute finanziellen Perspektiven eröffnet? Die Antwort lautet: Diejenigen, die explizit eine theoretisch-wissenschaftliche Ausbildung und Grundlegung ihres Wissens anstreben. Denn Studium heißt: primär und je nach Hochschulart mitunter ausschließlich Beschäftigung mit Theorie; dies für mindestens drei Jahre und dies auf einem Niveau, das das der weiterführenden Schule erheblich übersteigt. Das wird von vielen unterschätzt. 30 Prozent der Studenten brechen ihr Studium an. Wobei die Studienabbrecher wiederum auf dem Ausbildungsstellenmarkt sehr gefragt sind – aufgrund ihrer im Studium erworbenen Kenntnisse, ihres Alters und der damit verbundenen Lebenserfahrung sowie ihrer meist guten Motivation für einen beruflichen Neustart.
Wer sich nicht sicher ist, ob er oder sie es wagen sollte: Die Noten und das Lernerleben in der weiterführenden Schule sind ein guter Indikator für einen möglichen Studienerfolg oder eben Misserfolg: Sind die Noten gut, und fällt das Lernen leicht, ist nichts gegen eine Studi-enaufnahme einzuwenden. Sind dagegen die Noten mäßig, und gestaltet sich auch das Lernen mühsam, ist von zu erwartenden Problemen beim Studium auszugehen.
Und für wen darüber hinaus könnte das Wissen um die Möglichkeit des zweiten Bildungswegs von Interesse sein? Für all diejenigen Schüler, die sich durch das Gymnasium oder das Berufskolleg quälen, getrieben durch das – häufig von der Gesellschaft im Allgemeinen und den Eltern im Besonderen forcierten – Ziel, wie auch immer eine Hochschulreife zu erwerben, um – koste es was es wolle – zu studieren …
Dabei ginge es auch anders: Warum nicht nach der Mittleren Reife eine betriebliche Ausbil-dung aufnehmen, die nicht ohne Grund weltweit als Exportschlager und als entscheidend für die Wirtschaftskraft Deutschlands gilt? Sich so in praktischen Tätigkeiten ganz anders und meist weitaus erfolgreicher zu erleben als in der Schulbank und auf diese Weise zum vielleicht ersten Mal positive Bildungserfahrungen zu sammeln. Es stehen nahezu alle Möglichkeiten offen.
Fazit: Die Bildungslandschaft in Deutschland ist in hohem Maße differenziert; die Bildungs-angebote sind – bei über 17.300 Studiengängen und über 300 Ausbildungsberufen – vielfältig wie nie; und Königswege gibt es nicht. Sondern nur den je individuellen Berufsweg, der gut zu sondieren und gegebenenfalls auch zu probieren ist.
Roland Bergmann
Zur Person
Roland Bergmann ist Berufsberater für akademische Berufe bei der Agentur für Arbeit Schwäbisch Hall – Tauberbischofsheim. Er betreut alle Gymnasien und Berufskollegs im Hohenlohekreis und ca. die Hälfte dieser Schulen in Schwäbisch Hall.