Die Wirtschaft des Vereinigten Königreichs wird unter den Folgen des Austritts aus der EU deutlich mehr leiden als die deutsche. Davon ist Jürgen Matthes vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln überzeugt. Nichtsdestotrotz – der Brexit wird auch auf uns Auswirkungen haben.
Die Debatte über den Austritt des Vereinigten Königreichs (UK) aus der Europäischen Union (EU) macht seit eineinhalb Jahren Schlagzeilen. Was bedeutet der Brexit für die deutsche Wirtschaft und die Region Heilbronn-Franken? Trotz großer Sorgen vor einem möglichen No-Deal-Szenario einigten sich EU und UK Anfang Dezember plötzlich doch relativ geräuscharm auf die grundlegenden Austrittsmodalitäten.
Bislang ist jedoch nur die erste Phase der Austrittsverhandlungen im Grundsatz abgeschlossen. Bald beginnen die Verhandlungen über eine mehrjährige Übergangsphase nach März 2019 sowie über ein Rahmenabkommen für die zukünftigen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen. Wie sehr die deutsche Wirtschaft und die Region Heilbronn-Franken durch den Brexit in Mitleidenschaft gezogen werden, wird davon abhängen.
Ziel beider Seiten ist, dass sich in der Übergangsphase zunächst nichts oder nur sehr wenig ändert. Man will den Unternehmen nicht zwei, sondern nur einen Wechsel der Rahmenbedingungen zumuten – und zwar nach der Übergangsphase. Ob das politisch auch gelingt, ist noch nicht ausgemacht. Stolpersteine sind hier vor allem die Forderungen der EU, dass das UK während der Übergangsphase weiterhin die Personenfreizügigkeit gewähren muss und dem Europäischen Gerichtshof unterworfen bleibt – beides rote Tücher für die Brexiteers.
Die Form der zukünftigen Wirtschaftspartnerschaft bestimmt darüber, wie stark die Handelsbarrieren auf Dauer steigen werden. Klar ist: Die britische Regierung will aus dem Binnenmarkt und der EU-Zollunion austreten. Daraus resultieren kostenträchtige und zeitaufwendige Zollverfahren im gegenseitigen Handel. Im Geschäft mit Nicht-EU-Ländern ist das für viele deutsche Exportfirmen bereits tägliche Praxis. Wichtiger ist: Müssen die Unternehmen auch mit Zöllen rechnen? Vermutlich nicht. Denn beide Seiten streben ein ambitioniertes Freihandelsabkommen (FHA) an. Ausgehend von bestehenden FHA heißt das Zollfreiheit zumindest im Industriewarenhandel.
Wichtige Aspekte bei den Verhandlungen sind auch die Zollbedingungen für Agrarwaren und Lebensmittel, die Frage der gegenseitigen regulatorischen Anerkennung im Warenhandel und – vor allem aus Sicht des UK – der Rahmen für den Handel mit Finanzdienstleistungen. Dazu kann derzeit nur spekuliert werden. Sicher ist dagegen, dass die Handelsverflechtung zwischen dem UK und Deutschland recht intensiv ist. Mit 86 Milliarden Euro gingen 2016 über sieben Prozent der deutschen Warenexporte auf die britischen Inseln. Damit ist das UK der fünftwichtigste Warenhandelspartner.
Erste negative Konsequenzen
Auch steht fest, dass die deutsche Wirtschaft bereits erste negative Effekte verkraftet hat. So fiel der Pfundwechselkurs nach dem BrexitReferendum um gut zehn Prozent gegenüber dem Euro. Laut einer Berechnung des Instituts der deutschen Wirtschaft sanken unsere Warenexporte in das UK früher bei einer zehnprozentigen Pfundabwertung um etwa sechs Prozent. Tatsächlich gingen die deutschen Warenausfuhren im zweiten Halbjahr 2016 um mehr als sieben Prozent gegenüber dem in 2015 zurück. Trotzdem wuchs die Wirtschaft 2016 mit 1,9 Prozent recht kräftig, weil Binnenwirtschaft und Arbeitsmarkt stützten.
Wehgetan haben diese kurzfristigen Brexit-Effekte in der Breite daher nicht – mit Ausnahme deutscher Firmen mit intensiven Handelsbeziehungen, die wohl auch langfristig überproportional unter dem Brexit leiden. Wenn ein No-Deal-Szenario vermieden wird, werden jedoch gemäß Studien gesamtwirtschaftlich auch diese Auswirkungen eher geringfügig sein.Genauso klar ist: Die UK-Wirtschaft wird deutlich mehr leiden. Und wenn es der zerstrittenen britischen Regierung weiterhin an Konstanz und Verlässlichkeit mangelt, wird der Brexit für unsere Nachbarn alles andere als eine Erfolgsstory.
Jürgen Matthes
Zur Person
Jürgen Matthes leitet das Kompetenzfeld „Internationale Wirtschaftsordnung und Konjunktur“ im Bereich Wissenschaft des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. Dort begann seine Karriere 1995 zunächst als persönlicher Referent des Direktors. Im Jahr 2000 war der gebürtige Dortmunder dann im Arbeitsbereich „Neue Ökonomie“ und später im Arbeitsbereich „Internationale Wirtschaftspolitik“ tätig. Seit 2012 ist Matthes Leiter des Kompetenzfelds „Internationale Wirtschaftsordnung“.