Kino im Kopf

Wie sehen Blinde beziehungsweise Sehbehinderte fern oder einen Film im Kino? Geht das? Ja, dank einer Berliner Agentur, die vor drei Jahren zwei Apps entwickelt hat, die sowohl Seh- als auch Hörgeschädigten einen Besuch im Lichtspielhaus ermöglichen.

Kino – ein Vergnügen für alle Sinne: Sehen, Hören, Schmecken, Riechen – und manchmal sogar Fühlen. Je nachdem, ob man vielleicht sein erstes Date in einem Lichtspielhaus hat und es zum „Händchenhalten“ kommt. Eine große Leinwand, bequeme Sitze mit Softdrink-Becher-Halterung, leckeres Popcorn und ein Film, auf den man lange gewartet hat, sind die überzeugenden Attribute, mit denen das nächstgelegene Kino alle paar Wochen oder Monate lockt. Wer kann da schon widerstehen?

Dieter Müller ist an einem Mittwochabend Anfang September das erste Mal seit fast zweieinhalb Jahren wieder im Filmtheater, um sich gemeinsam mit seiner Partnerin einen aktuellen Kino-Blockbuster anzuschauen. Warum? Dazu später mehr. Aber von vorne: Der 49-Jährige ist sehbehindert. 2007 wurde bei ihm ein Pigmentdispersionsglaukom festgestellt, eine seltene Augenerkrankung, bei der sich Pigmentzellen von der Rückseite der Iris ablösen, was in Folge den Augeninnendruck erhöht. Langfristig kann der Sehnerv dadurch geschädigt werden. Nachdem Müller, der seit seinem 18. Lebensjahr Brillenträger ist, zunehmend schlechter zu sehen begann, konsultierte er einen Augenarzt. Die Diagnose traf ihn damals hart und unvorbereitet.

Zehn Operationen später ist der ehemalige American-Football-Spieler auf einen Langstock angewiesen. Sein Sehvermögen hat drastisch abgenommen. Auf größere Entfernung erkennt er praktisch nur Umrisse, alles ist verschwommen. Nach unten sieht er eigentlich gar nichts mehr. Dass er früher oder später ganz erblinden kann, ist dem gebürtigen Erlenbacher bewusst. „Ich habe keine Angst davor“, sagt er gefasst. Der offene Umgang mit seiner Sehbehinderung hat ihm geholfen – und der Rückhalt durch seine Lebensgefährtin Esther Gesierich, mit der er seit mehr als fünf Jahren liiert ist.

Wie ein Hörbuch

Heute sind die beiden für ein Experiment ins Heilbronner Cinemaxx-Kino gekommen. Doch wie soll sich Müller die Vorstellung „ansehen“? Ganz einfach: mit einer App namens „Greta“, die Audiodeskriptionen ins Ohr flüstert. Klingt erst mal seltsam, ist aber total genial. Die von einer Berliner Agentur entwickelte Applikation gibt es bereits seit 2014 – genauso wie ihr Äquivalent „Starks“ für Hörgeschädigte. Wie Greta funktioniert? Man benötigt ein Smartphone, mit dem man sich in einem App-Store Greta kostenlos herunterlädt und dann den Film auswählt, den man im Kino erleben möchte. Doch die Auswahl ist begrenzt.

Für Müllers und Gesierichs Lichtspielhaus-Erlebnis fällt die Wahl auf „Atomic Blonde“, ein Spionage-Actionfilm, der im Berlin von 1989 kurz vor dem Fall der Mauer spielt, mit Charlize Theron in der Hauptrolle. Die Audiodeskription muss bereits zuhause heruntergeladen werden, im Kino wird sie dann nur noch gestartet, um sich mit dem Film zu synchronisieren. Über Kopfhörer wird den Nutzern schließlich beschrieben, was sie nicht selbst sehen können. Dabei steckt allerdings nur ein Stöpsel im Ohr, andernfalls wären weder Musik noch Dialoge zu verstehen.

Und was genau wird Blinden beziehungsweise Sehbehinderten eingeflüstert? Bei „Atomic Blonde“ sind es zum Beispiel Beschreibungen wie: „Lorraine (Anm. d. Red. Charlize Theron) trägt einen schwarzen Pullover, einen Minirock und schwarze Stiefel, die übers Knie gehen“, „Der Rauch ihrer Zigarette geht in Wolken über“ oder „Ein Stencil (Anm. d. Red.: Schablone) in Neongrün mit Ostberlin wird eingeblendet.“ Das Ganze ist vergleichbar mit einem Hörbuch – es soll eben Kino im Kopf entstehen. Die männliche Stimme ist sehr angenehm, das Tempo, in dem gesprochen wird, genau richtig, die Deskription präzise, verliert sich jedoch nicht im Detail. Das Einzige, das Müller nach der Vorstellung zu bemängeln hat, ist: „Greta musste teilweise gegen die oft viel zu laute Musik im Film ankämpfen.“

Doch insgesamt habe es ihm gut gefallen, besonders die Audiodeskription – besser als bei manch einem Film auf den öffentlich-rechtlichen Sendern. Der gelernte Bilanzbuchhalter, der sich zurzeit zum Berater bei der Initiative Blickpunkt Auge ausbilden lässt, hat die App nämlich nicht zum ersten Mal ausprobiert. Auch in seinem Bekanntenkreis gibt es einige Sehbehinderte und Blinde, die Greta sehr gerne nutzen und dank dieser wieder öfter ins Kino gehen. Müller selbst muss allerdings einräumen: „Meine Partnerin und ich sehen lieber zuhause Filme.“ Knutschen könne man auf dem Sofa eh viel besser. Seinen Humor hat der Heilbronner jedenfalls nicht verloren.

Olga Lechmann