Baumaterialien zu 100 Prozent wiederzuverwerten und genau zu wissen, wo welche Materialien in welcher Menge bei einem Abriss – und langfristig auch im Bestand – zu finden sind, das ist das Ziel von Optocycle. Mit Hilfe von KI will das Tübinger Start-up eine Kreislaufwirtschaft im Bauwesen aufbauen, in der jeder Bauschutt zu neuem Baustoff wird. Wie das gelingen kann und vor welchen Herausforderungen die Baubranche steht, beschreibt Geschäftsführer Max-Frederick Gerken.

Die Bauindustrie steht weltweit vor einer gewaltigen Herausforderung: Der Bedarf an Baustoffen wächst rasant, während natürliche Ressourcen wie Sand und Kies zunehmend knapper werden. Gleichzeitig fallen allein in Deutschland jährlich rund 230 Millionen Tonnen Bau- und Abbruchabfälle an – ein enormes Potenzial für die Wiederverwendung. Doch statt dieses Potenzial optimal zu nutzen, wird ein Großteil dieses Materials immer noch als Abfall und nicht als Rohstoff angesehen.
Die Lösung liegt in einer echten Kreislaufwirtschaft im Bauwesen. Dabei geht es nicht nur darum, Abfälle zu recyceln, sondern sie so hochwertig wiederzuverwenden, dass aus alten Gebäuden tatsächlich neue Baustoffe entstehen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Künstliche Intelligenz, die erstmals ermöglicht, mineralische Bauabfälle präzise zu identifizieren und ihrem optimalen Verwertungspfad zuzuführen.
Die Chancen für die Kreislaufwirtschaft im Bauwesen
Die Potenziale für eine nachhaltigere Bauwirtschaft sind enorm. Recyclingfähige Baumaterialien wie zum Beispiel Beton und Ziegel sind Bestandteile von anthropogenen Lagern. Jedes Kilogramm, das erneut verwendet wird, reduziert den Bedarf an Primärrohstoffen und senkt die Umweltbelastung durch Fahrwege und Abbau. Doch um eine echte Kreislaufwirtschaft zu etablieren, muss eine ortsnahe und optimale Wiederverwendung erreicht werden. Dabei spielt die Digitalisierung eine entscheidende Rolle. Moderne Sensorik und KI-Technologien machen den gesamten Stoffstrom sichtbar und messbar. So wird jeder LKW, der Baustoffe transportiert, Teil eines digitalen Materialpasses, der Informationen über Qualität, Zusammensetzung und optimale Weiterverwertung liefert. Das ermöglicht erstmals eine effiziente Steuerung von Recyclingprozessen. Unternehmen könnten mit diesen Daten exakt planen, welche Materialien aus einem Abrissprojekt gewonnen und an anderer Stelle direkt wiederverwendet werden können.
Herausforderungen für die Kreislaufwirtschaft im Bauwesen
Trotz dieser Potenziale gibt es nach wie vor strukturelle Hürden. Ein zentrales Problem sind regulatorische Vorgaben. Strenge Normen für Baustoffe erschweren den Einsatz von Recyclingmaterialien, weil häufig in standardisierten und veralteten Vorgaben Angaben für hochwertige Sekundärbaustoffe fehlen. Hinzu kommt die Akzeptanz in der Praxis. Viele Bauunternehmen setzen noch auf bewährte Materialien und sind unsicher, ob Recyclingprodukte die gleichen Qualitätsstandards erfüllen. Auch die Logistik und Infrastruktur stellen eine Herausforderung dar.
Für eine funktionierende Kreislaufwirtschaft müssen Rückbau, Aufbereitung und Wiedereinsatz besser aufeinander abgestimmt werden. Ohne klare Stoffströme, eine funktionierende Transportlogistik und ausreichende Verarbeitungsanlagen wird es schwer, Recyclingmaterialien systematisch in den Markt zu integrieren.

Gamechanger: Wie KI die Kreislaufwirtschaft im Bauwesen revolutioniert
Bei der Überwindung dieser Hürden kann die Digitalisierung helfen: Das Tübinger Start-up Optocycle setzt hier mit einem KI-basierten System an, das mineralische Bauabfälle in Echtzeit analysiert. Durch multispektrale Sensorik werden Materialien auf LKW-Ladeflächen oder Förderbändern analysiert und automatisch klassifiziert. Die KI erkennt Materialqualitäten, Korngrößen, Fremdstoffe und Verunreinigungen – eine entscheidende Grundlage für hochwertiges Recycling. Alle Daten werden digital erfasst, sodass Bauunternehmen, Recycler und Behörden auf verlässliche Informationen zugreifen können. Dadurch entsteht erstmals ein transparenter Stoffstrom, der eine gezielte Wiederverwendung und bessere Planbarkeit ermöglicht.
Die Technologie ermöglicht es, Gebäude als Materiallager der Zukunft zu betrachten. Schon heute könnten beispielsweise Bauunternehmen anhand von Bestandsanalysen abschätzen, welche Materialien bei einem Rückbau anfallen und für neue Bauprojekte eingeplant werden können. Optocycle kann nun diese Planzahlen verifizieren und in IST-Zahlen umwandeln. So wird eine neue Form der Ressourcenplanung möglich, die den Einsatz von Primärrohstoffen optimal ergänzen kann und eine Optimierung entlang der gesamten Wertschöpfungskette ermöglicht.
Blick in die Zukunft: Die Baumaterialien von morgen
Nachhaltiges Bauen wird in den kommenden Jahren von innovativen Materialien und neuen Kreislaufprozessen geprägt sein. Die Vision von Optocycle ist eine Bauwirtschaft, in der jeder Bauschutt neuer Baustoff wird. Die Digitalisierung der Branche schafft die Grundlage dafür, dass Materialströme nicht mehr im Verborgenen bleiben, sondern gezielt gesteuert und nachhaltig genutzt werden. In Zukunft könnten Abbruchgebäude nicht mehr als Abfall betrachtet, sondern als wertvolle Rohstoffquelle gehandelt werden. Damit wäre ein entscheidender Schritt getan, um die Bauwirtschaft nicht nur nachhaltiger, sondern auch wirtschaftlicher zu gestalten.
Max-Frederick Gerken
Zur Person
Max-Frederick Gerken ist Co-Founder und CEO der Optocycle GmbH.

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