Der Ventilhersteller Gemü hat im vergangenen Jahr das Start-up Inevvo Solutions ausgegründet. Im Interview erklären COO Marcus Ripsam und seine Assistentin Marina Dege, wie ein Team sich mit einer Präsenzarbeitszeit von vier Stunden pro Tag organisiert, wie wertvoll der Kontakt zum Kunden ist und wobei ein grünes Sofa hilft.
Ein Stift, ein Chip, eine clevere Idee: Mit dem Conexo-¬System will Gemü seinen Kunden neue Möglichkeiten bieten. 2018 wurde es in ein Start-up ausgegliedert. Warum dieser Schritt?
Marcus Ripsam: Wir wollen mit dem Conexo-System die gesamte Anlage erfassen können. Von Gemü kommen aber nicht alle Komponenten der Anlage, die bei unseren Kunden steht. Damit der Kunde nicht mit mehreren ähnlichen Stiften hantieren muss, wollen wir unsere Mitbewerber gewinnen. Das funktioniert nur, wenn wir uns etwas vom Mutterhaus lösen.
Welche Vorteile entstehen durch die Eigenständigkeit?
Ripsam: Ohne Ausgründung hätten wir vieles nicht so umsetzen können, wie wir uns das gewünscht haben. Die flexible Arbeitszeit und die Einführung von Scrum zum Beispiel. (Scrum ist eine Vorgehensweise aus dem Projekt- und Produktmanagement, das im Besonderen in der Softwareentwicklung eingesetzt wird, Anm. d. Red.). Die Geschwindigkeit, die wir im letzten Jahr auf die Straße bekommen haben, ist in einem internationalen Konzern so nicht zu realisieren. Die Prozesse bei einem etablierten Unternehmen dauern einfach länger.
Wo liegen die Unterschiede im Arbeitsalltag bei einer Neu- oder Ausgründung? Was davon kann auf ein größeres Unternehmen übertragen werden?
Ripsam: Bei uns kann man nicht sagen, das ist dein Bereich, mach mal. Die Verantwortlichkeiten reichen viel weiter, man ist für alles zuständig, auch über das eigentliche Tätigkeitsfeld hinaus. Der Druck wird positiv erhöht: Der Mitarbeiter hat immer den Blick auf das Ganze.
Marina Dege: Die Arbeit ist vielschichtiger. Wenn ich Probleme habe, finde ich immer schnelle Unterstützung – auch wenn es nicht unbedingt in den Arbeitsbereich des anderen fällt. Die Kommunikationswege sind außerdem deutlich kürzer.
Inwieweit ist der Start-up-Spirit lebbar als reine Ausgliederung eines Traditionsunternehmens?
Ripsam: Das dauert alles seine Zeit, sich loszulösen. Wir nutzen noch viele gemeinsame Strukturen mit Gemü, das ERP-System zum Beispiel. Uns war wichtig die Umsetzung zügig durchzuziehen, daher sind wir den Kompromiss eingegangen, Wir versuchen mit verschiedenen optischen Mitteln, wie der Farbe unserer Räume, wie hier das grüne Sofa, das Mindset zu ändern, uns vom Mutterhaus abzuheben. Was uns besonders auszeichnet ist unsere Flexibilität, auch was Arbeitszeit und -ort angeht. Mittelständler haben gewachsene Strukturen, die manchmal schwer zu durchbrechen sind. Über uns kann Gemü den Umweg machen und Sachen ausprobieren. Wir sind oft das Testfeld für Veränderungen, gerade im Bereich Digitalisierung.
Dege: Auch wenn sich kurzfristig etwas ändert und sich der geplante Ablauf verschiebt, ist das kein Problem für das Team.
Für welche Testfelder konnte Inevvo Gemü denn bislang dienen?
Ripsam: Das Arbeitszeitmodell ist schon besonders, dafür haben wir auch lange gekämpft. Jeder unserer Mitarbeiter hat eine Präsenzzeit von vier Stunden pro Tag. Die kann er sich innerhalb der Öffnungszeiten des Gebäudes legen, wie er möchte. Jeder ist selbst verantwortlich, auf seine 40 Stunden pro Woche zu kommen. Das wird bei Gemü jetzt auch eingeführt.
Wir haben Scrum eingeführt. Das ist ein Standardsystem in der Softwarebranche, für einen Komponentenhersteller wie Gemü ist das ein gänzlich anderes Vorgehen. Wir arbeiten in Drei-Wochen-Sprints, dadurch sind wir sehr agil und können sehr flexibel auf Änderungswünsche eingehen. Jeder im Team hat eine Aufgabe, Marina ist Scrum Master, dazu kommen Product Owner. In Plannings wird besprochen, was in den nächsten drei Wochen entwickelt wird. Das kann man bei Software gut machen. Bei Gemü wird gerader der Entwicklungsprozess reviewt. Eventuell lässt sich das in Teilen übernehmen.
Dege: Beim Scrum gibt es viele Prozesse drumherum, die übertragbar sind. Gerade das Dailies ist eine interessante Option, das ließe sich gut auch bei Gemü einführen. Dailies sind Kurzmeetings, in denen sich die Entwickler besprechen, maximal 15 Minuten am Tag, wo sind sie gerade, wo gibt’s Probleme, was kommt als nächstes.
Wie verlief die Umstellung – auch im Kopf?
Ripsam: Acht von neun Mitarbeitern der Inevvo waren vorher bei Gemü. Die meisten mussten zunächst überzeugt werden, den sicheren, langjährigen Arbeitsvertrag bei Gemü gegen den Job bei einer Tochter einzutauschen. Wir mussten auch erstmal mit den neuen Freiheiten zurechtkommen. Die Umstellung auf das Scrum-System dauert noch. Manchmal neigt man dazu, in alte Denkmuster zurückzufallen.
In welchen Bereichen ist Inevvo auf Gemü weiterhin angewiesen?
Dege: In meiner Bachelor-Thesis über die Ausgründung der Inevvo habe ich definiert, welche Bereiche weiterhin beim Mutterhaus bleiben sollten, wo Eigenständigkeit wenig Sinn macht. Das sind unter anderem HR, Marketing, Controlling und die Buchhaltung.
Ripsam: Wir greifen auf das Vertriebssystem von Gemü zurück. Die stellen unser Produkt dem Kunden vor und meist steigen wir dann schon ein und führen ein Skype-Gespräch oder fahren hin. Wir kommen immer mehr direkt mit Kunden in Kontakt und können so neue Geschäftsfelder erschließen.
Zu den Vorteilen, in einem kleinen Unternehmen zu arbeiten, kommen die Vorzüge, eine gestandene Firma im Rücken zu haben. Was sind die Nachteile?
Ripsam: Die Mitarbeiter müssen offen für das neue System sein, aber das regelt sich in der Gruppe, im Alltag. Wir sind hier sehr basisdemokratisch. Wenn ich etwas entscheide und alle anderen sind dagegen, muss ich manchmal auch meine Entscheidung revidieren – wenn es weiterhin zum Unternehmenserfolg führt.
Wie hat sich Inevvo im vergangenen Jahr entwickelt?
Ripsam: Wir haben unsere Zielgruppe extrem geändert, vorher haben wir uns auf den Endkunden konzentriert, der Gemü-Produkte eingebaut hat. Jetzt fokussieren wir auf Firmen, die Komponenten herstellen und noch keine eigene Digitalisierungslösung haben. Wir haben einige Lernprozesse in diesem Jahr durchlaufen. Wir programmieren mittlerweile Software für Gerät aus dem Consumer-Markt. Das bedarf viel mehr Aufwand. Nicht jede neue Entwicklung bedeutet, dann es eine Verbesserung gab, manchmal müssen wir uns nur dem neuen Betriebssystem anpassen.
Wie sehen die Pläne für die Zukunft aus?
Ripsam: Ziel ist schon im Bereich Software-Entwicklung zu wachsen. Dafür sind wir auf unsere Partner angewiesen. Wir finden schlicht und ergreifend kein Personal. Wir sind zwar auf dem Land für junge Familien interessant, aber jemanden von außen herholen, das ist schwierig. Die Konkurrenz um gutes Personal ist groß. Aber Kooperationen im Software-Bereich funktionieren gut. Der Entwickler kann sitzen wo er will, der Zugriff auf Cloud-Daten ist von überall aus möglich.
Frau Dege, Sie waren Werkstudentin bei Gemü, haben Ihre Bachelor-Thesis über die Ausgründung von Inevvo geschrieben. Was sind die Unterschiede aus Sicht eines Studierenden? Wo lernt man mehr, wo lernt man schneller?
Dege: Es ist ein anderes Lernen. Als Student hier bei Inevvo bekommt man alles mit, hier kenne ich alle Bereiche. Wenn ich flexibel und offen lerne möchte, ist Inevvo besser. Bei Gemü kannte ich meinen Bereich, den Vertrieb, bis ins Detail. Wenn man sich in die Tiefe spezialisieren möchte, ist der Mittelständler geeigneter.
Interview: Denise Fiedler