Wenn Eltern ihre Schützlinge erstmals in den Kindergarten oder in die Schule schicken, erwarten sie, dass sie dort nicht nur etwas lernen, sondern vor allem selbstständig werden. Eine Erziehungsmethode, die darauf großen Wert legt, ist die von Maria Montessori.
Lea-Ciara geht in die fünfte Klasse. Ihre Handschrift ist sehr sorgfältig. Mit ihrem zierlichen Finger fährt die Zwölfjährige auf der Seite eines fein säuberlich geführten, schwarz eingebundenen Buches vertikal entlang und erklärt, was sich hinter den einzelnen Zeilen verbirgt. Es ist nicht irgendein Buch. Es ist ein sehr wichtiges – eines, das die Schülerin fortwährend begleitet. An Lea-Ciaras Schule heißt dieses Buch Schultagebuch. Hier kann sie hineinschreiben, was sie im Verlauf einer Unterrichtswoche gemacht, was sie gelernt und ob sie all ihre Aufgaben geschafft hat.
Auch für Komplimente und an Lehrer gerichtete Wünsche ist Platz. Am Fuße jeder Doppelseite steht eine Unterschrift. Die der Eltern. Beim 17. April hat Lea-Ciara noch nichts notiert – der Tag hat ja auch erst begonnen. In ihrem Buch stehen etwa „Religion“ oder „FA“. Letzteres ist die gesamte Woche hinweg häufig zu lesen. Was ist denn „FA“? „Das heißt Freie Arbeit“, erklärt das Mädchen. Im Klartext bedeutet das, die Kinder entscheiden selbst, woran sie arbeiten möchten – Quadratzahlen, Grammatik oder lieber Englischvokabeln?
Lea-Ciara besucht keine „normale“ fünfte Klasse. Sie ist eine von 100 Schülern an der Grundschule Steinbach, die im Montessori-Zug unterrichtet werden. Maria Montessori war eine italienische Ärztin, die sich nach ihrem Studium auf Kinderheilkunde spezialisiert hatte. Als Folge ihrer Tätigkeit in einem römischen Kinderhaus, das sie 1907 selbst eröffnete, entwickelte die Mutter eines Sohnes die nach ihr benannte Erziehungsmethode.
Heute gibt es in Deutschland und auch im Ausland zahlreiche Kindertagesstätten und -gärten sowie Schulen, die das Montessori-Bildungskonzept für sich entdeckt haben. Die Grundschule Steinbach ist eine dieser Einrichtungen. „Wir bieten seit 1995 den Montessori-Zug bei uns an“, informiert Schulleiter Thomas Helmle. Die ehemalige Rektorin und auch die Kollegen seien damals dieser Methode gegenüber sehr offen gewesen. „Mit dem weiterführenden Zug sind wir dann vor sieben Jahren gestartet“, ergänzt der 61-Jährige.
Was er damit meint, ist, dass es einmal das Montessori-Angebot für die erste bis vierte Klasse gibt und darüber hinaus zusätzlich für die fünfte bis neunte. Dabei werden die Fünft- und Sechstklässler, die als M5 zusammengefasst werden, im Gebäude der Grundschule Steinbach unterrichtet. Die Siebt- bis Neuntklässler besuchen das Schulzentrum West in der Siederstadt, sind allerdings an zwei Tagen im Freilandmuseum in Wackershofen. Hinter beiden Zügen steht die Montessori Initiative Schwäbisch Hall e. V. als Unterstützerin der Schule – und bezogen auf das Montessori Kinderhaus und Kindernest als Trägerin. Ulrike Seitz ist seit 2014 im Vorstand und war selbst 13 Jahre lang Lehrerin an der Grundschule mit der Steinfassade und dem Gewölbekeller gegenüber dem hoch in den Himmel ragenden Kloster Comburg. „Der entscheidende Unterschied bei der Montessori-Pädagogik ist, dass das Lernen stark von den Kindern ausgeht. Sie entwickeln Interessen und gehen diesen im Unterricht nach“, versucht Seitz das Konzept begreiflich zu machen.
Jeder übernimmt Verantwortung für das eigene Lernen
Montessori-Erziehung denke nicht vom Lehrplan, sondern von der Entwicklung des Kindes aus. Dabei sei vor allem eines essenziell, fügt Helmle hinzu: „Jedes Kind trägt Verantwortung für das, was es gemacht hat und übernimmt Verantwortung für das eigene Lernen.“ Außerdem werde die Selbstständigkeit bei dieser alternativen Methode sehr großgeschrieben. „Hilf mir, es selbst zu tun“ ist der Grundgedanke des Montessori-Prinzips. So können auch schon die ganz Kleinen sich selbst anziehen, waschen oder den Tisch decken und abräumen.
Natürlich macht Maria Montessoris Idee weder Erzieher noch Lehrer überflüssig – im Gegenteil. „Die Lehrer setzen Impulse, wissen, auf welchem Stand ihre Schüler sind und wo sie noch Unterstützung brauchen“, erläutert die 66-Jährige. Weil es doch ins Gewicht fallende Differenzierungen zwischen Standard- und Montessori-Unterricht gibt, ist für zweiteren eine zweijährige Ausbildung zusätzlich zum Studium nötig. An der Grundschule in Steinbach arbeiten 19 Lehrer, 13 davon sind nach Montessori ausgebildet. „Der Lehrer ist ein Lernbegleiter, hält sich also eher im Hintergrund“, weiß Seitz.
Für Lea-Ciara steht heute noch Klassenrat auf dem Programm. Darunter ist eine Art Aussprache und Streitschlichtung unter den Mitschülern zu verstehen. „Jeder, der etwas auf dem Herzen hat, kann das im Klassenrat sagen“, erklärt die Fünftklässlerin. „Wenn jemand aber nichts beitragen möchte, ist das auch in Ordnung.“
Olga Lechmann
Anpacken im Freilandmuseum
Neben dem Unterricht in der Schule arbeiten die Jugendlichen der Klassen sieben bis neun an zwei Tagen in der Woche im Hohenloher Freilandmuseum in Wackershofen. Dort renovieren sie beispielsweise ein Haus und lernen dabei, wie man mit Werkzeugen und Maschinen umgeht. Sie kümmern sich aber auch um Tiere, Gärten und einen Weinberg. Darüber hinaus sind die Schüler zuständig für Führungen. „Es ist viel mehr als nur ein Reinschnuppern“, sagt Thomas Helmle, Schulleiter der Grundschule Steinbach. Die Kinder sollen Experten in diesen Tätigkeiten werden.