Carl Elsener steht beim „Gipfeltreffen der Weltmarktführer“ in Schwäbisch Hall gemeinsam mit seiner Frau Veronika Elsener, CMO in der Victorinox AG, als Keynote-Speaker auf der Bühne. Bereits in vierter Generation Geschäftsführer des berühmten Schweizer Familienbetriebs, sieht er in Deutschland einige Gräben, die es zu überwinden gilt. Wo die Regionen Schwyz und Heilbronn-Franken ähnlich ticken, was wir von den Schweizern lernen können und was eine gesunde Balance damit zu tun hat, erklärt Victorinox-Chef Carl Elsener im Interview mit dem PROMAGAZIN.

Aktuell entsteht der Eindruck, in der Schweiz sei die Wirtschaft robuster als in Deutschland. Das Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft geht von einem BIP-Zuwachs von 1,6 Prozent in 2025 aus – Deutschland ist laut OECD Schlusslicht unter den Industrienationen mit 0,7 Prozent. Ist ein Vergleich zwischen der Deutschen Bahn und der Schweizer Staatsbahn ein passendes Sinnbild für die aktuelle Situation, Herr Elsener?
Carl Elsener: Ja, man könnte eine gewisse Parallele sehen. Wenn man die Wirtschaft anschaut, ist Deutschland aktuell stark gefordert.
Woran liegt das?
Elsener: Ich glaube, in der Schweiz können wir auf stabile politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen bauen, die für einen Produktionsstandort entscheidend sind. Wir haben heute in der Schweiz noch eine vertretbare Staatsquote. Außerdem profitieren wir bei uns von höchster Zuverlässigkeit, einem stark ausgeprägten Qualitätsbewusstsein und unserem dualen Bildungssystem, das uns ermöglicht, junge Nachwuchskräfte aufzubauen. Das ist eine wichtige Säule der Konkurrenzfähigkeit.
Warum lässt aus Ihrer Sicht in Deutschland der „Wirtschaftswachstums-Zug“ auf sich warten?
Elsener: Wenn man das in den Medien verfolgt, kämpft Deutschland mit strukturellen Problemen und Wiederabhängigkeit von fossilen Brennstoffen. Die stockende Energiewende und die Bürokratie belasten die Industrie, veraltete Infrastrukturen hemmen ein gesundes Wachstum. Und auch wir in der Schweiz müssen aufpassen, dass sich die Politik bemüht, gute und gesunde Rahmenbedingungen zu schaffen und nicht unternehmerische Initiative immer mehr im Keim abzubremsen. Deutschland ist wie die Schweiz sehr stark exportabhängig – aber gleichzeitig auch anfällig für geopolitische Spannungen und Lieferketten-Probleme. Beide Länder haben unterschiedliche Stärken und Schwächen. Die Schweiz mag derzeit robuster erscheinen, aber auch sie steht langfristig vor großen Herausforderungen wie dem demografischen Wandel, dem globalen Konkurrenzdruck und dem immer stärker werdenden Schweizer Franken, der alle Unternehmen, die eine hohe Wertschöpfung in der Schweiz haben, aber auf den Weltmarkt angewiesen sind, enorm fordert.
Was machen die Schweizer anders?
Elsener: Also, grundsätzlich kochen wir auch mit Wasser, aber ich finde, die Schweiz denkt sehr langfristig, investiert immer wieder in die Infrastruktur und schaut, dass sich diese modernisiert, anpasst und verbessert. Trotz eines moderaten Wirtschaftswachstums profitiert die Schweiz von der politischen und wirtschaftlichen Stabilität. Das sind zwei wichtige Säulen. Die Schweiz hat zusätzlich ein starkes föderalistisches System, das den Kantonen sehr viel Autonomie gewährt.
Deutschland hat auch eine föderalistische Struktur. Offenbar sind noch andere Faktoren ausschlaggebend.
Elsener: Entscheidungen sind bei uns oft besser auf lokale Bedürfnisse abgestimmt und nah am Bürger. Wir schätzen in der Schweiz die direkte Demokratie. Die Bevölkerung hat regelmäßig Einfluss auf politische Entscheidungen, die dadurch dann auch breit abgestützt sind. Über das Referendum, also rund vier bis sechs Abstimmungen im Jahr, und die Initiative hat das Volk immer wieder Einfluss.
Glauben Sie, Deutschland tut zu wenig für seine innovativen Unternehmer?
Elsener: Aus meiner Sicht hat Deutschland eine starke Basis, aber es braucht Mut und Entschlossenheit, um Unternehmertum zu erleichtern. Vor allem weniger Bürokratie, niedrigere Steuern, besserer Zugang zu Fachkräften und eine gezielte Innovationsförderung könnten dazu beitragen, den Standort wieder wettbewerbsfähiger zu machen. Zudem ist es wichtig, eine Kultur zu schaffen, in der Unternehmertum als positive Kraft anerkannt wird. Deutschland könnte dabei von Ländern wie den USA oder der Schweiz lernen, die oft pragmatischer und unternehmerfreundlicher agieren. Der wichtige Beitrag, den Unternehmen in der Gesellschaft leisten, sollte in den Vordergrund gerückt werden.
Wie könnte man das angehen?
Elsener: Gesellschaft und Politik müssen als Ganzes auftreten. Wir sind alle im selben Boot, sollten uns gegenseitig helfen und unterstützen und nicht einander Schwierigkeiten bereiten oder Steine in den Weg legen. Es braucht das aufeinander Zugehen und nicht das Öffnen von Gräben. Wenn alle an ihren eigenen Zielen arbeiten, können Pläne nicht gelingen. Aber wenn sich Handelnde als Team verstehen, kommt der Erfolg. Und so ist es auch in einem Land: Wenn Politik, Bevölkerung und Wirtschaft sich wieder als Einheit ansehen und konstruktiv zusammenarbeiten, hat Deutschland eine Zukunft, die nicht aufzuhalten ist. Die Basis ist da.
Legen sich also in Deutschland Politik, Wirtschaft und Bevölkerung gegenseitig Steine in den Weg?
Elsener: Von außen hat man ein wenig das Gefühl, ja. In der Gesellschaft werden Unternehmer als die Profitgierigen angeschaut, statt dass man das Positive rausschält und sich die Wirtschaft bemüht, in der Gesellschaft ihr Image zu verbessern – mit Taten und nicht nur mit Worten.
Wie würden diese Taten aussehen?
Elsener: Für mich gehört dazu, dass man sich beispielsweise für ein starkes Unternehmensklima einsetzt. Die Bevölkerung muss spüren, wie Unternehmen sich für Arbeitsplätze und gute Arbeitsbedingungen stark machen. Dass man in der Wirtschaft langfristig denkt und nicht zu sehr in dieses Extrem der Profitorientiertheit abrutscht.

Zurück in unsere Region: Wir haben hier bundesweit die höchste Dichte an Weltmarktführern. Erkennen Sie Parallelen zwischen den Unternehmern unserer Region und den Schweizern?
Elsener: Ich sehe einige starke Parallelen. Beide Regionen setzen auf innovative, qualitativ hochwertige Produkte und Dienstleistungen, die global nachgefragt werden. Beide stehen für langfristiges Denken, Spezialisierung und eine enge Verankerung in ihrer jeweiligen Region. Sie stärken und pflegen eine Bindung zu ihren Mitarbeitenden. In dieser Region, aber auch in der Schweiz, sitzen viele Traditionsunternehmen, die zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern eine Verbindung schaffen, vor Ort stark integriert sind und einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der Region haben.
Also sind Traditionsunternehmen in Deutschland und der Schweiz die wichtigsten Hoffnungsträger, wenn es um wirtschaftliche Stabilität geht?
Elsener: Ich bin überzeugt, Traditionsunternehmen werden, wirtschaftlich gesehen, auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Gleichzeitig braucht es eine gute Balance zwischen Tradition, Werten und Geschichte auf der einen Seite und Offenheit und Innovation auf der anderen. Traditionsunternehmen sind ein starkes Rückgrat der Wirtschaft. Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz zeichnen sie sich durch ein starkes Bewusstsein für Nachhaltigkeit und für langfristige Wertorientierung aus. Diese Betriebe denken in Generationen statt in Quartalszahlen, was ihnen Stabilität und auch Widerstandsfähigkeit verleiht. In beiden Ländern sind Traditionsunternehmen häufig eng mit ihrer Region verbunden. Sie tragen nicht nur zur wirtschaftlichen Entwicklung bei, sondern prägen auch die lokale Identität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Für mich selbst sind Traditionsunternehmen eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Sie müssen in der Lage sein, ihre Werte zu bewahren und gleichzeitig offen, innovativ und agil bleiben, um den Herausforderungen einer globalisierten, digitalisierten Welt gerecht zu werden.
Übernehmen Traditionsunternehmen auch gesamtgesellschaftlich eine Vorbildrolle?
Elsener: Aktuell ist die Welt in vielen Bereichen aus der Balance gekommen. Wir haben immer stärkere Extreme, die Gräben werden größer. Daran muss die Politik arbeiten. Kleinere und mittlere Traditionsunternehmen übernehmen dort eine wichtige Aufgabe, da Ihnen das Anstreben einer gesunden Balance schon immer im Blut lag.
Diese Balance ist in Ihrem Unternehmen geglückt. Das „Swiss Army Knife“ ist über 125 Jahre alt. Die klappbare Klinge und die kompakte Form waren damals eine Weltneuheit. Sind aus Ihrer Sicht eher Innovationen oder kontinuierliche Verbesserungen Erfolgsfaktoren?
Elsener: Wenn ich unsere Geschichte anschaue, dann sind auf jeden Fall die kontinuierlichen Verbesserungen unsere Erfolgsfaktoren. Wir versuchen immer über unsere Verkaufsorganisation, aber auch über die Nähe zu unseren Kunden, neue Entwicklungen möglichst früh zu erkennen und dann mit kreativen Ideen die Bedürfnisse unserer Kunden umzusetzen. Es ist wichtig, immer offen zu sein und sich weiterentwickeln zu wollen.
So eine Weiterentwicklung ist auch Ihr Plan, ein Messer ohne Klinge anzubieten. Wie kam es zu dieser Idee?
Elsener: Leider steigt aktuell weltweit die Gewaltbereitschaft und der Missbrauch von Taschenmessern. Die Politik versucht Lösungen zu finden. Einen Weg, den man dabei eingeschlagen hat, ist, zu versuchen in gewissen öffentlichen Bereichen das Tragen von Taschenmessern einzuschränken. Deshalb haben wir uns überlegt: Wie können wir unseren Kunden helfen, dass sie – auch ohne Klinge – ein nützliches Tool bei sich tragen.
Das nenne ich „aus der Not eine Tugend machen“ – mit einer Innovation weitsichtig auf mögliche Absatzprobleme zu reagieren.
Elsener: Ich glaube, jedes Unternehmen ist gezwungen, auf die Welt zu achten und zu schauen, in welche Richtungen sich die Gesellschaft und deren Bedürfnisse verändern. Auch Victorinox muss offen und wachsam sein und solche Entwicklungen ernst nehmen. Im Fall des Messers ohne Klinge, das dann auch nicht mehr Messer heißen wird, haben wir zwei Strategien entwickelt: Eine Strategie geht in Richtung Fokus auf Werkzeuge, mit denen man Verschiedenstes öffnen kann. Eine Flasche, Büchse oder ein Paket – aber eben ohne Klinge. Die andere Strategie ist eher mittel- bis langfristig. Dort liegt der Fokus auf neuen Werkzeugen und Tools, die wir aktuell noch gar nicht im Sortiment haben. Wir möchten versuchen, Kundenbedürfnisse zu entdecken und kreative Produkte zu entwickeln.
Sie produzieren immer noch hauptsächlich in der Schweiz. Werden Sie auch in Zukunft daran festhalten?
Elsener: Die Taschen-, Küchen-, Berufsmesser und Uhren produzieren wir praktisch ausschließlich in der Schweiz. Für das Reisegepäck arbeiten wir mit führenden Herstellern in Asien zusammen, die unseren Qualitätsanforderungen entsprechen. Unser Herz schlägt für die Schweiz. Victorinox ist seit 1884, als das Unternehmen von meinem Urgroßvater gegründet wurde, am gleichen Standort. Heute beschäftigen wir im Talkessel Schwyz über 1.000 Mitarbeitende. Das Bekenntnis zum Standort haben wir erst kürzlich erneut bekräftigt, als wir rund 50 Millionen Schweizer Franken in ein neues Distributionszentrum investiert haben. Mit diesem kleinen roten Taschenmesser, dem „Swiss Army Knife“, produzieren wir eine Schweizer Ikone als Inbegriff des „Made in Switzerland“. Der globale Wettbewerb wird gleichzeitig mit immer härteren Bandagen geführt. Damit die Schweiz in diesem Kampf erfolgreich bleiben kann, braucht es auch in Zukunft gute Rahmenbedingungen. Wir müssen für unsere Wettbewerbsvorteile Sorge tragen und dürfen sie nicht leichtsinnig verspielen. Das gilt für die Schweiz genauso wie für Deutschland.

Zur Person
Schon 1978 stieg Carl Elsener ins Familiengeschäft ein und lernte nach einer kaufmännischen Grundausbildung das Führungshandwerk. Während eines sechsmonatigen Aufenthalts in Connecticut schloss er berufsbegleitend eine Vertriebs- und Marketingausbildung an der Universität Fairfield ab. Seit 2007 leitet Carl Elsener Victorinox. Die Schweizer Handelszeitung kürte ihn 2022 zum Leader des Jahres. Mit einer eigenen Stiftung engagiert sich Familie Elsener im karitativen Bereich.
Interview von Fabienne Acker