Von Burgen, Booten und Brunnen

Es klingt so geheimnisvoll, doch das Wort Mythos bedeutet semantisch zu Deutsch nichts anderes als Erzählung. Allerdings enthält nicht jeder Mythos unbedingt einen wahren Kern. Eine Spurensuche.

Wir hören sie gerne am Lagerfeuer, an verregneten Abenden, wenn der dunkle Himmel wolkenverhangen und die Stube mollig warm ist, oder etwa am gruseligsten Tag des Jahres, an Halloween. Mythen, Sagen, Legenden und (Geister)geschichten, die sich so oder so ähnlich zugetragen haben, wie sie uns erzählt werden oder wir sie selbst zum Besten geben. Manche über Jahrhunderte tradiert, lassen uns diese Erzählungen über so einiges staunen oder jagen dem ein oder anderen vielleicht sogar einen Schauer über den Rücken. Doch was viele nicht wissen: Auch um den Landkreis, die Gemeinde oder den Ort, wo man wohnt oder geboren ist, ranken sich Mythen und Geschichten – manche davon sind wirklich passiert, andere überlassen die Wahl zwischen wahr und falsch der eigenen Fantasie. Wir haben uns auf die Suche nach solchen Überlieferungen gemacht und drei Geschichten aus dem Landkreis Heilbronn ausgegraben.

Wahre Treue

„Die Weiber mögen abziehn und jede habe frei, was sie vermag zu tragen und ihr das Liebste sei; lasst ziehn mit ihrer Bürde sie ungehindert fort, das ist des Königs Meinung, das ist des Königs Wort“, schrieb der französische Dichter Adelbert von Chamisso (1781-1838) lediglich sieben Jahre vor seinem Tod über die Frauen von Weinsberg. Ihre Geschichte ist wohl die berühmteste, die mit dem Heilbronner Land und im Besonderen mit der 12.000-Einwohner-Stadt Weinsberg assoziiert wird: Wir schreiben das Jahr 1140, der Stauferkönig Konrad und der bayerische Herzog Welf befinden sich im Krieg. Weil die Weinsberger Letzterem treu ergeben sind, beschließt Konrad, deren Burg zu belagern. Wochen gehen ins Land, die Belagerten leiden Hunger – doch sie bleiben standhaft und weigern sich, aufzugeben. Da geht Konrad einen radikalen Schritt und droht, am nächsten Morgen alle zu töten. In der Nacht aber schleicht sich eine junge Weinsbergerin zum Stauferkönig, um ihn darum zu bitten, die Bürger zu verschonen. Von der Schönheit der mutigen Unbekannten geblendet, gewährt Konrad allen Frauen, vor der Eroberung von der Burg zu fliehen und alles mitzunehmen, was sie tragen können. Als der König bei Tagesanbruch erwacht, kann er den Anblick, der sich ihm da bietet, nicht fassen: Ein langer Zug von Frauen ist gerade dabei, das Burgtor zu passieren – auf dem Rücken keine persönlichen Habseligkeiten oder wertvollen Gegenstände, sondern ein jede ihren eigenen Mann. Weil sie Konrad beim Wort nehmen, retten die Weinsbergerinnen ihren Gatten das Leben. Als des Königs Neffe sich jedoch einmischen will, sagt Konrad lediglich, von der List der Frauen beeindruckt: „Lasst sie in Frieden ziehen. Am Wort des Königs soll man nicht drehen und deuteln!“

Angst und Schrecken

Es ist wohl der bekannteste Offenauer Mythos, der Kindern ebenso wie Erwachsenen von Generation zu Generation erzählt wurde, um ihnen einen Schrecken einzujagen – „Die Geschichte vom Fährmann und dem Hugebocher“, einem Waldgeist, dessen Name von dem Flüsschen Huckenbach abgeleitet wurde. Ereignet haben soll sie sich in einer regnerischen Wintersnacht, als die Kirchenglocke gerade zwölf geschlagen hatte. Der Fährmann Adam Schott und dessen Frau schlafen bereits seit einer Weile, da wird die friedliche Stille der Nachtruhe jäh durch ein lautes Rufen vom Neckar her gestört: „Holüber!“ Die Gattin des Fährmannes wird sofort wach – und da ist es wieder. Das Rufen wiederholt sich, also weckt sie ihren schnarchenden Mann. „Was ist los?“, will der sogleich wissen, als plötzlich wieder gerufen wird: „Holüber!“ Adams Frau fordert ihn auf, hinunter zum Fluss zu gehen und seiner Aufgabe nachzukommen. Widerwillig und verschlafen macht sich der Fährmann, einen Regenumhang über den Schultern, auf den Weg. Am Färcherhaus angekommen, kann er bereits Umrisse eines riesigen Mannes mit unnatürlich feuerhell leuchtenden Augen am anderen Ufer erkennen. Bis auf das Geräusch des strömenden Regens ist es still in der finsteren Nacht. Der Fährmann erreicht eben die andere Seite, schon springt der mysteriöse Fahrgast ins Boot. Die Kapuze seines durchnässten Mantels tief ins Gesicht gezogen, sitzt er die ganze Fahrt über schweigend da. Die Angst in den Knochen traut sich Adam nicht, ihn um das Fahrgeld zu bitten, das beim Einstieg zu entrichten ist. Kurz vor dem Ufer springt der Fremde aus dem Boot und verschwindet in der Dunkelheit. Der Fährmann – erleichtert, dass er seinen unheimlichen Fahrgast los ist – blickt in den Kahn und sieht eine glühende Münze, die ein tiefes Loch ins Holz gebrannt hat. Adam hebt sie mit seinem Schnupftuch auf, wickelt sie darin ein und steckt sie sich in die Tasche. Zu Hause angekommen fragt seine Frau erschrocken: „Was ist passiert? Du bist ja ganz bleich!“ Bei einem Schnaps erzählt der Fährmann seiner Gattin, was er erlebt hat und zeigt ihr die Münze. „Das ist ja ein Goldstück!“, ruft sie und ergänzt: „Niemand bezahlt den Fährmann mit einem Goldstück.“ Sie wiegt es ungläubig in ihren Händen. Plötzlich, wie von einem Geistesblitz getroffen, ruft sie: „Das muss der Hugebocher gewesen sein, den du da gefahren hast. Der Hugebocher, der drüben im Spiegelwald haust.“ Noch lange sitzt das Ehepaar am Tisch. Draußen regnet es immer noch.

Heilende Wirkung

Stinkende Berge von Müll auf den Straßen, frei herumlaufende Tiere, die ihre Notdurft in den Gassen verrichten – so wie auch manche Menschen –, keine Kanalisation, mangelnde Hygiene. Mit einem Wort Mittelalter. Dass da die Bevölkerung häufig krank war und teilweise jung verstarb, liegt auf der Hand. In eben dieser Epoche spielt unsere dritte Geschichte, die sich in der Gemeinde Roigheim ereignet haben soll. Ein gewisser Arzt namens Fabrum hat sie im Jahre 1669 in einem Buch für die Nachwelt festgehalten. Er schreibt von einer Quelle, die Krankheiten zu heilen vermochte – einer sogenannten Schwefelquelle. Laut Dr. Dieter Wollmann vom Heimatverein in Roigheim ist der genaue Ort, an dem die Quelle entsprungen ist, allerdings nicht mehr bekannt. „Man weiß auch nicht, ob sie im 18. oder 19. Jahrhundert versiegt ist oder ob ihre Schüttung nur so schwach wurde, dass sie nicht mehr genutzt werden konnte“, ergänzt Wollmann. Das Schwefelwasser soll jedenfalls eine desinfizierende und entzündungshemmende Wirkung gehabt haben – die Folge seines hohen Salzgehalts und des Hydrogensulfids, das als keimtötend gilt. Geheilt wurden beispielsweise Krankheiten wie „abscheuliche Krätze, offene Füß, Geschwulst, übel Gehör, Blindheit, schwache Gelbsucht und Kropf“, wie es in dem Werk des Arztes heißt. „Man muss die Heilerfolge des Schwefelwassers vor dem Hintergrund der katastrophalen hygienischen Verhältnisse zu jenen Zeiten sehen“, relativiert Wollmann. Für die Menschen damals waren sie jedoch nichts anderes als ein Wunder.

Olga Lechmann