Es klingt wie Science-Fiction: Prof. Dr. Huber-Wagner, Chefarzt am Diakoneo Diak Klinikum Schwäbisch Hall, operiert als einer der ersten in Deutschland mit der Robotic Suite der Firma Brainlab, einem kompletten, computergesteuerten System. Mit so großem Erfolg, dass er zu einer weltweit gefragten Koryphäe für robotergestützte Chirurgie geworden ist.
Nennen wir ihn Herrn Schmidt, den Hobbyheimwerker, der unbedingt noch vor seinem Urlaub die Wohnzimmerdecke streichen will. Keine große Sache. Doch auf der Leiter verliert er das Gleichgewicht, stürzt und kommt mit Blaulicht ins Diakoneo Diak Klinikum nach Schwäbisch Hall. Die Diagnose von Professor Dr. Stefan Huber-Wagner, der dort Chefarzt für Wirbelsäulen- und Unfallchirurgie sowie Alterstraumatologie ist: instabiler Brustwirbelbruch. Keine Verletzung des Rückenmarks. Operation sofort.
Auch wenn Herr Schmidt eine fiktive Figur ist – genau diese Unfälle sind laut Huber-Wagner traurige Klassiker in seinem Klinikalltag. Gleichzeitig sind sie ein Musterbeispiel für den professionellen Einsatz von Spitzentechnologie am Diak Klinikum: Seit zwei Jahren assistiert die so genannte Robotic Suite Huber-Wagner und seinem Team, wenn Patienten mit Brust-, Hals- und Lendenwirbelbrüchen, komplexen Beckenbrüchen und anderen anspruchsvollen Frakturen operiert werden. Als zweites Krankenhaus bundesweit setzt das Diak Klinikum das System der Münchner Entwickler von Brainlab ein. Die Robotic Suite kombiniert dabei hochauflösende robotische Bildgebung eines so genannten Cone Beam-Computertomographen namens Loop-X mit einer speziellen Navigationssoftware, die Daten rasant verarbeitet. Der sprichwörtlich greifbarste Assistent für Huber-Wagner ist der automatische Roboterarm Cirq, der Schrauben exakt im Knochen platziert.
Schwäbisch Hall mit weltweiter Vorbildwirkung
Das System, das auf Fotos und Videomaterial aussieht wie die Kulisse eines Science-Fiction-Blockbusters, hat von Schwäbisch-Hall aus Vorbildwirkung weltweit: „Wir haben die Robotic Suite ungefähr dreimal in der Woche im Einsatz, haben jetzt schon über 270 Fälle damit operiert“, berichtet Huber-Wagner. Es sei inzwischen eine chirurgische Routine eingetreten, die es ermögliche, weitere Einsatzfelder auszuloten. Huber-Wagner gilt als Pionier, sein Wissensvorsprung ist bei Kollegen aus der ganzen Welt gefragt.
Deshalb kann es vorkommen, dass der Chefarzt nicht am OP-Tisch steht, sondern im Flieger nach Mexiko, Brasilien, Norwegen, nach Lissabon oder Berlin sitzt, um dort Vorträge zu halten, Schulungen zu geben oder vor Kollegen zu referieren. „Mir ist wichtig, das Wissen weiterzugeben, damit Fehler und Komplikationen noch besser vermieden werden können als mit den herkömmlichen 2D- oder 3D-Operationstechniken“, sagt er. Schließlich sei die Robotic Suite am Diakoneo Diak Klinikum weltweit erst die fünfte gewesen, die installiert wurde. Die Nachfrage nach der High-Tech-Troika aus 3D-Bildgebung, Robotik und präziser Navigation ist inzwischen stark gestiegen, bestätigt Dominic Schäfer, Senior Product Line Manager bei Brainlab. Stand heute seien zwölf Robotic Suites in Deutschland und 42 international im Einsatz. Die Nachfrage nach Huber-Wagners Expertenwissen dürfte fürs Erste nicht abebben.
Vorteile beim Operieren mit der Robotic Suite
Dass von Heilbronn-Franken als Diak-Einzugsgebiet und München als Brainlab-Standort rund um den Globus robotergestützte, digitale Medizin ihren Weg in die OP-Säle findet, liegt aus Sicht der Entwickler wie auch des Chefarztes an den Vorteilen des Verfahrens. „Bei herkömmlicher 2D-Bildgebung werden Instrumente und Implantate am Patienten unter Röntgendurchleuchtung platziert. Dass dabei nur eine oder zwei Projektionsrichtungen zur Verfügung stehen, macht die Orientierung deutlich schwieriger, in manchen Fällen sogar unmöglich“, erläutert Brainlab-Experte Schäfer. Mit Röntgen lasse sich außerdem nur ein erheblich kleinerer Teil des Operationsfelds aufnehmen – viele Einzelbilder führten aber zu einem Risiko für Ungenauigkeiten.
Höchste Präzision beim Operieren mit der Robotic Suite
Das Risiko mangelnder Präzision scheint mit der Robotic Suite eliminiert zu sein. Denn Huber-Wagner hat die Ergebnisse der Robotic-Suite-Eingriffe dokumentiert und evaluiert: „Wir haben Stand heute weit mehr als 1200 Schrauben eingesetzt, das ist wohl die größte Serie weltweit. Davon saßen sie nur in 13 Fällen nicht ganz in der perfekten Linie, aber absolut in der Toleranz.“ Es sei zu keiner einzigen Revision gekommen, „das ist eine sensationell niedrige Rate“, berichtet Huber-Wagner. Die Ergebnisse freuen auch Brainlab: „Global geht man bei konventioneller OP-Technik von 15 Prozent Schraubenfehllagen aus – der Wert ist wirklich exzellent“, kommentiert Schäfer.
Huber-Wagners Fazit: Je anatomisch komplizierter die verletzte Region, umso mehr hat sich das System bewährt. Etwa bei Eingriffen an der Halswirbelsäule, wo ein Fehler mitunter ein Todesurteil bedeuten könne. „Dort sind sehr wichtige Strukturen auf sehr engem Raum. Die Räume, wo sich Schrauben verankern lassen, sind relativ klein – die gilt es zu treffen und das kann man mit der Robotic Suite sehr genau“, erläutert der Chefarzt. Weiterer Vorteil aus seiner Sicht: Die neue Technologie senke die Strahlenbelastung für das OP-Team deutlich.
Ob Robotik und Digitalisierung auch eine Zeitersparnis bringen, hält Huber-Wagner für schwer überprüfbar. Einerseits ginge das Hineindrehen der Schrauben schneller, doch die komplizierte Technik zu kalibrieren und die Instrumente auf die Patientendaten zu referenzieren, koste im Gegenzug Zeit. „Das Setting ist schon aufwändig. Es ist keine Wundermaschine, die einem eine Operation in zehn Minuten hinlegt, die früher zwei Stunden gedauert hätte“, stellt Huber-Wagner klar. Auch die Unterschiede bei der Genesungszeit seien nach seiner Schätzung eher gering, denn sowohl konventionell als auch robotergestützt werde minimalinvasiv ohne große Hautschnitte operiert.
Chirurg und Roboter arbeiten Hand in Hand
Eines kann der Diak-Chefarzt allerdings ausschließen: dass künftig Robotik den Chirurgen überflüssig macht. „Das wird in den kommenden 50 Jahren nicht passieren – da muss noch viel Wasser den Kocher hinunter fließen“, sagt er. Denn zum einen arbeite das System nicht autonom. Sollten unvorhergesehene Situationen eintreten, die die Messdaten verfälschen, könne nur ein Mensch diese Fehler erkennen und beheben. Dabei genüge es schon, dass jemand gegen den Cirq-Arm stoße, anatomische Besonderheiten zutage kommen oder ein Blutspritzer die Infrarotkamera verdecke. Bei Stromausfall oder technischen Problemen müsse jeder Arzt imstande sein, eine OP „per Hand“ zu Ende zu führen – so wie jeder Pilot ein Flugzeug ohne Bordcomputer landen können müsse.
So sieht es auch Schäfer: „Aktuelle robotische Systeme haben für den Chirurgen eine rein unterstützende Funktion. Zukünftig werden neue Technologien aber viele weitere Tätigkeiten übernehmen – sowohl in der Diagnose als auch in der Therapie.“ Behandlungen dürften dadurch effizienter werden.
Über die derzeitigen Grenzen der Technologie blickt auch Huber-Wagner hinaus: Für Schwäbisch-Hall etwa würde er sich wünschen, auch beim Thema Augmented Reality Vorreiter zu sein: „Es macht unglaublich Spaß, weil man merkt und live sieht, dass man ein OP-Ergebnis praktisch genauso umsetzen kann wie geplant. Das ist einfach beglückend.“
Und auch wenn der Heimwerker-Unfall in unserem Beispiel dem Patienten wohl seinen Urlaub vermasseln würde – er könnte dank der Robotic Suite ohne bleibende körperliche Schäden seine Wohnzimmerdecke vermutlich früher oder später zu Ende streichen.
Operieren mit der Robotic Suite
Operieren mit der Robotic Suite. Wie das funktioniert, erklären Prof. Dr. Huber-Wagner und Brainlab-Produktmanager Dominic Schäfer:
Vor einem Eingriff benötigt der Arzt eine Diagnostik, eine Schichtbildgebung per Computertomograph oder Kernspintomograph. Mit dem CT-Datensatz wird die Operation genau vorab geplant und die Daten werden ins Navigationssystem eingespielt. Benötigte Schrauben werden schon abgespeichert und farblich hinterlegt.
Für die OP wird der Patient in Narkose auf den Bauch gedreht. Etwa zwei Zentimeter große Schnitte sind nötig, um die Instrumente an einem unverletzten Knochenteil oberhalb oder unterhalb der Fraktur anzubringen: In einem kleinen Halter, der fest mit dem Knochen verbunden ist, wird eine Referenz aufgeschraubt. Das ist ein Viereck, das vier reflektierende Kügelchen enthält – ein optisches Navigationssystem, gesteuert über eine Infrarotkamera, die im OP installiert ist und alles überblickt.
Mithilfe des Referenzsterns wird mit dem Loop-X, dem robotisch fahrbaren CT, eine 3D-Aufnahme gemacht und mit den Datensätzen der vorherigen Aufnahme am Computer übereinander gelegt. So wird eine genaue virtuelle Rekonstruktion der Patientenanatomie am Navigationssystem dargestellt. Zeitgleich sieht der Chirurg die Instrumente am Bildschirm. Ärzte können so schon – quasi durch die Haut – feststellen, an welcher Stelle sich welcher Wirbel befindet. Nach dieser Vorarbeit kommt in der eigentlichen Haupt-OP die Robotik zum Einsatz: Der Roboterarm wird durch den Chirurgen grob positioniert, die Bewegungen lassen sich auf dem Navigationssystem Curve virtuell verfolgen. Die robotische Hand übernimmt danach die Feinjustierung und navigiert millimetergenau an die vorgeplante Schraubenlage.
So kann der Arzt präzise bohren, Führungsdrähte positionieren, nach einem weiteren Kontroll-CT die Schrauben wie geplant einsetzen und am Bildschirm zusehen, wie sie ihre Position erreichen. Nerven und
andere wichtige Strukturen bleiben geschützt. Sollten Abweichungen am Bildschirm sichtbar bleiben, lässt sich jede Schraube spontan wieder umplanen. Abschließend erfolgt eine erneute 3D-Bildgebung zur Kontrolle.
Natalie Kotowski