Digitale Technologien verändern die Wertschöpfungsketten – doch der Schlüssel zum Erfolg liegt nicht in der Technik allein. Prof. David Wuttke vom Center for Digital Transformation am TUM Campus Heilbronn erklärt, wie Hidden Champions ihre Stärken nutzen, warum KI nicht alles kann und welche Schattenseiten neue Tools haben.

Welche digitalen Technologien sind aktuell besonders wichtig bei der Entwicklung von Geschäftsmodellen?
David Wuttke: Künstliche Intelligenz nimmt eine besondere Stellung unter den digitalen Technologien ein. Praktisch alle Unternehmen fragen sich, wie sie davon profitieren können. Es wäre fahrlässig, sich nicht mit KI zu beschäftigen.
Also ist KI derzeit der zentrale Treiber?
Wuttke: Ja, aber nicht nur. Alle Technologien durchlaufen verschiedene Lebensphasen – von anfänglicher Euphorie über Ernüchterung bis zum breiten Einsatz. Das nennt man auch den Hype-Cycle. Technologien wie Augmented Reality, das Internet der Dinge und Digitale Zwillinge haben inzwischen eine höhere Reife erreicht. Nach einem Tal der Erkenntnisse sind sie zunehmend einsatzbereit.
Digitale Technologien entlang der Wertschöpfungskette
Wie wirken sich diese Technologien konkret auf Prozesse entlang der Wertschöpfungskette aus?
Wuttke: Das hängt stark von der jeweiligen Technologie ab. Künstliche Intelligenz hilft, in großen, unstrukturierten Daten Muster zu erkennen und daraus Empfehlungen abzuleiten. Generative KI kann sogar eine Massenindividualisierung ermöglichen und damit eine neue Form der Unterstützung auf individueller Ebene.
Und in der Produktion?
Wuttke: Dort hilft Augmented Reality substanziell – etwa bei der Einführung neuer Produkte, um Mitarbeitende mit den notwendigen Schritten vertraut zu machen. Auch bei Reparaturen, wenn Expertinnen und Experten remote unterstützen, ist AR hilfreich. Hier kommen auch Internet of Things (IoT) und Digitale Zwillinge ins Spiel. Werden diese Technologien sinnvoll eingesetzt, lassen sich Rüst-, Wartungs- und Ausfallzeiten stark minimieren. Das führt zu schnelleren Reaktionen und mehr Resilienz.
Wie sieht es im Bereich Supply Chain Finance aus?
Wuttke: Dort stehen weiterhin plattformbasierte Lösungen im Zentrum. Unsere Forschung zeigt, dass KI auch hier zunehmend Einfluss gewinnt – beispielsweise bei Unternehmen wie Interface Financial Group oder Calculum. Zudem befindet sich Blockchain im Aufwärtstrend, und wir erforschen systematisch neue Lösungsansätze.
Wie Unternehmen neue Technologien im Arbeitsalltag verankern
Welche Auswirkungen haben diese Entwicklungen auf die Zusammenarbeit mit Lieferanten und anderen Partnern?
Wuttke: Systeme arbeiten schneller, effizienter und dynamischer zusammen. Es entstehen neue Kooperationsmöglichkeiten – gerade auch im Bereich der Finanzflüsse. So können Unternehmen sicherstellen, dass nicht nur Waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind, sondern auch Lieferanten stabile Liquidität zu attraktiven Konditionen erhalten.
Wenn neue Technologien eingeführt werden: Was sind die entscheidenden Erfolgsfaktoren für eine nachhaltige Verankerung im Unternehmensalltag?
Wuttke: Der Mensch entscheidet! Oft sehen wir nur die Technologie. Aber wenn diese grundsätzlich einsatzbereit ist, brauchen wir auch ein „Managerial-Readiness-Level“. Manager müssen verstehen, wie sie durch die Technologie Wert generieren.
Können Sie das an einem Beispiel verdeutlichen?
Wuttke: Nehmen wir Augmented Reality. Es ist großartig, wenn Unternehmen damit schnell neue Produkte einführen können, weil Mitarbeitende direkt in der AR-Brille sehen, was zu tun ist. Unsere Forschung zeigt, dass neue Aufgaben damit etwa 40 Prozent schneller erledigt werden. Aber es gibt auch Schattenseiten: Wie beim GPS übernimmt der Computer das Denken. Ohne Augmented Reality oder bei Verbesserungsvorschlägen hakt es dann. Manager müssen entscheiden: Will ich schnell produzieren, dann nehme ich AR. Will ich, dass Mitarbeitende Verbesserungsvorschläge machen, kann das hinderlich sein.
Das klingt nach einem komplexen Abwägungsprozess.
Wuttke: Das ist es auch. Neue Technologien haben oft unerwartete Auswirkungen. Unternehmen sind dann erfolgreich, wenn sie präzise analysieren: Was kann die Technologie? Welches Problem löst sie – und welches bringt sie vielleicht mit sich?
Das Potenzial der Virtual Reality
Sie gelten als Vorreiter beim Einsatz von Virtual Reality in der Lehre. Welche Potenziale sehen Sie für mittelständische Unternehmen?
Wuttke: Virtual Reality hat großes Potenzial, darf aber Präsenzlehre nicht ersetzen. Während eines Covid-19-Lockdowns habe ich in einer Metaverse unterrichtet – mit Studierenden als Avatare. Das war besser als reine Videokonferenzen, aber unsere Präsenzlehre ist heute deutlich überlegen. Soziale Interaktion muss echt sein.
Können Sie trotzdem eine konkrete Anwendung schildern, die das Potenzial dieser Technologie besonders deutlich macht?
Wuttke: Ein starkes Beispiel ist Simulation. Wir haben eine Supply-Chain-Simulation in Virtual Reality entwickelt. Sie hilft, Entscheidungen im realistischen Umfeld zu treffen und aus Fehlern zu lernen, etwa bei Bestandsengpässen oder Überlagerung.
Gibt es auch praktische Anwendungen?
Wuttke: Ja, etwa für Sicherheitstrainings. Virtual Reality ermöglicht es, gefährliche Situationen zu analysieren, ohne sich in Gefahr zu bringen.
Was innovative Unternehmen ausmacht
Auch Sensorik spielt eine wichtige Rolle in modernen Supply Chains. Wie lässt sich diese sinnvoll nutzen?
Wuttke: Sensorik ist die Grundlage für das IoT. Aber auch hier stellt sich die Frage: Was mache ich mit den riesigen Datenmengen? Wie gewinne ich vielleicht sogar neue Geschäftsmodelle?
Wie könnten Unternehmen hier entsprechend handeln?
Wuttke: Unternehmen müssen prüfen, ob sie bestehende Prozesse verbessern oder grundlegend wandeln wollen. Ein Ansatz ist, Services statt Produkte anzubieten: garantierte Verfügbarkeit statt Waren, zuverlässige Prozesse statt Maschinen. Das funktioniert nur mit Ferndatenerfassung, IoT und proaktiver Instandhaltung.
Sie forschen auch zu Unterschieden in der digitalen Reife von Unternehmen. Was unterscheidet aus Ihrer Sicht Unternehmen, die Digitalisierung aktiv gestalten, von jenen, die hier eher zögerlich agieren?
Wuttke: Hier ist es schwierig, zu pauschalisieren. Allerdings sind allgemein innovative Unternehmen oft auch weiter in der Digitalisierung. Teilweise hilft auch eine schlanke Unternehmensstruktur. Habe ich nur ein Ressourcenplanungssystem, so kann ich deutlich schneller agieren, als wenn ich viele habe. Und manchmal sehen wir ganz unerwartete Innovationstreiber.
Inwiefern unerwartet?
Wuttke: Während der Covid-19-Pandemie wurden beispielsweise viele Unternehmen zur Digitalisierung gezwungen. Das hat einige Projekte beschleunigt. Auch andere Krisen können helfen, Vorbehalte zu überwinden. Abgesehen davon ist es für Unternehmen unabdingbar, einen strategischen Ansatz zu wählen, der auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und einem guten Verständnis des individuellen Umfelds fußt.
Interview von Teresa Zwirner

Zur Person
David Wuttke ist Associate Professor für Supply Chain Management am Center for Digital Transformation des TUM Campus Heilbronn. Seine Forschung konzentriert sich auf Supply Chain Finance, digitale Transformation und das Verhalten von Entscheidungsträgern in komplexen Wertschöpfungssystemen. Dabei kombiniert er empirische und quantitative Methoden und gilt als Vorreiter beim Einsatz von Virtual Reality in der Lehre.


