Gesundheitsökonom: Einsparpotenzial in Milliardenhöhe im Gesundheitswesen

Deutschlands Gesundheitswesen hinkt bei der Digitalisierung viele Jahre hinterher, holt aber derzeit auf, sagt Ökonom David Matusiewicz. Im Interview erklärt er, wo wir Beiträge verschwenden und welche Chancen sich dank Digitalisierung in Zukunft auftun.

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Fax statt Digitalisierung: Im Vergleich zu anderen Branchen hinkt das deutsche Gesundheitswesen deutlich hinterher. Foto: Adobe Stock/nuttapong_punna.jpeg


Digital Human Care – digitale Gesundheitsversorgung – wird in Zukunft eine große Rolle spielen. Worin liegen Ihrer Meinung nach die Vorteile und welche Veränderungen kommen durch Technologien wie KI oder Robotik auf das Gesundheitssystem zu?

David Matusiewicz: Digital Human Care umfasst die gesamte Wertschöpfungskette von Forschung bis hin zu Diagnostik. Ein Beispiel: Ein Arzt in einer ganz normalen Praxis kann heute KI als Zweitmeinung hinzuziehen. Beim Dermatologen schaut eine KI auf das Muttermal und gibt eine Einschätzung, ob es gefährlich ist. Der Arzt verschreibt eine App auf Rezept, etwa gegen Depression. Patienten können Termine online buchen, Dokumente oder Übungen per Link auf ein Youtube-Video erhalten. Die ganze „Reise“ des Patienten fängt digital an und endet digital. Wir sind die letzte Generation, die ohne KI behandelt hat oder behandelt wurde, weil sie in Zukunft überall integriert sein wird – in Software, die wir nutzen, aber auch in der, die der Arzt nutzt.

Die Realität sieht offenbar anders aus: Sie sprechen davon, dass das Gesundheitswesen in Deutschland bei der Digitalisierung gegenüber anderen Branchen 15 Jahre im Rückstand ist. Woher kommt diese Stagnation?

Matusiewicz: Das Fax war vor 50 Jahren vielleicht mal eine tolle Erfindung und damals sehr innovativ. Wenn jemand seit 20 Jahren diese Technik nutzt, passt er da die Prozesse oft nicht freiwillig an. In Behörden und Verwaltungen – und das Gesundheitswesen ist ja größtenteils eine öffentliche Institution – gibt es wenig Anreize, sich umzustellen. So wird Jahr für Jahr die Vergangenheit fortgeschrieben, und nur bewährte Mittel werden genutzt. Auch Diskussionen rund um Datensicherheit sind in Deutschland immer wieder negativ konnotiert: Skandale, Strafen, Haftung. Diese Schlagworte sind nicht gerade prädestiniert dazu, zu experimentieren und über neue Kommunikationsmittel nachzudenken.

Laut einer Studie des Verbands Bitkom halten sieben Prozent der Befragten ein Fax für sicherer als digitale Kommunikation. Ist die Angst vor Digitalisierung gerade beim Thema Gesundheit verbreitet?

Matusiewicz: Gewohnheit, Angst und Wissenslücken sind mögliche Ursachen. Wir leben in einer Welt voller Mythen, Hörensagen und Annahmen beziehungsweise Rückschlüssen von sich selbst auf andere. Wir haben selbst eine Studie durchgeführt, die wir noch nicht veröffentlicht haben. Darin haben wir über 1000 Menschen befragt, wie sie das Thema Digital Health Care einschätzen. Wollt ihr einen elektronischen Impfausweis, wollt ihr eine elektronische Patientenakte, wollt ihr eure Termine online buchen? 80 bis 95 Prozent sagen: Ja, natürlich wollen wir das. Aber es hält sich ein Narrativ in der Gesellschaft: Dass die Deutschen das behalten wollen, was sie kennen. Sicher lehnen einige ein digitales Gesundheitswesen ab. Aber wenn man fragt, warum, kommt meistens wenig Plausibles. Ich erkläre dann in Vorträgen: Das Schlimmste was euch passieren kann, ist, dass ihr von eurem Sanitätshaus Windelwerbung bekommt. Alles andere, etwa, dass Diagnosen an den Arbeitgeber gelangen könnten, ist realistisch betrachtet dystopisches Szenario. Die wenigsten beschäftigen sich intensiv mit dem Thema. Es bedarf sehr viel Aufklärung.

Sie führen etwa Finnland an, wo viele Gesundheitsdaten gespeichert sind, was Weiterbehandlungen und Diagnosestellungen vereinfacht. Wie würden Sie Deutschland im europäischen Vergleich im Bereich Digitalisierung des Gesundheitswesens aufgestellt sehen?

Matusiewicz: Ich mache seit vielen Jahren internationale Gesundheitssystemvergleiche. Insgesamt sind die skandinavischen Länder und die Niederlande weiter vorn, und viele Länder um uns herum, selbst Polen. Dort geht man einfach stärker in die Umsetzung. Deutschland ist Weltmeister in der Regulation theoretischer Risiken, sage ich gern. Wir könnten viel weiter sein, wenn wir mehr umsetzen würden von dem, was heute technisch möglich ist.

Welche Einsparpotenziale bringt die Digitalisierung für Arztpraxen und Kliniken? Viele Häuser stehen unter starkem wirtschaftlichen Druck.

Matusiewicz: Das Problem ist, dass wir alle als Steuer- und Beitragszahler diese veralteten Technologien bezahlen. Die Krankenkassenbeiträge steigen wieder, und Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat prognostiziert, dass sie weiter dramatisch steigen. Immer weniger kommt beim Patienten an. Das Geld versickert in Administration, Bürokratie, Qualitätsmanagement. Schätzungsweise gehen 30 bis 40 Prozent der Beiträge für diese Administration drauf. Und damit ist keinem Patienten direkt geholfen. Studien von McKinsey und anderen Beratungen schätzen die Einsparpotenziale auf 40 bis 60 Milliarden Euro. Der Gesamttopf für das Gesundheitswesen liegt etwa bei 400 Milliarden Euro. Wir reden also nicht von ein paar Millionen, sondern von Milliardenbeträgen, die eingespart werden können, wenn allein diese Dokumentation, die aus rechtlichen und finanziellen Gründen erfolgen muss, automatisiert wird. Weiteres Einsparpotenzial liegt im Thema Compliance, der Therapietreue von Patienten. Sie gehen beispielsweise zum Arzt, sind aber Mitbürger, der Deutsch nicht gut genug kann, um den Arzt zu verstehen. Dann bekommen Sie ein Medikament, nehmen es zwei Tage lang und werfen den Rest weg. Diese Fälle gibt es sicherlich tausenfach. Fehlende Therapietreue kostet uns Milliarden im Gesundheitswesen. Hier kann ich heute schon mit KI-Übersetzungen bei Mehrsprachigkeit erreichen, dass Patienten verstehen, wie und warum sie behandelt werden. Ich kenne Fälle, da sagen Patienten: „Ich habe kein Diabetes, ich habe die Zuckerkrankheit.“

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Foto: Tom Schulte/FOM

Zur Person

Der Gesundheitsökonom Professor Dr. David Matusiewicz wird von den Medien oft als „die Stimme der Digitalen Gesundheit“ bezeichnet.
Er ist Dekan und Institutsdirektor an der FOM Hochschule, hat mehr als 30 Bücher herausgegeben und ist gefragter Keynote-Speaker (dxmg.de). Für das Zukunftsinstitut (www.zukunftsinstitut.de) hat Matusiewicz als Experte bei der Megatrendstudie „Zehn Trends für die Zukunft der Gesundheit“ mitgewirkt.


Interview von Natalie Kotowski

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