Der digitale Anamnese-Sessel, den Dr.-Ing. Jens Langejürgen vom Fraunhofer IPA gemeinsam mit der Universität Mannheim entwickelt hat, kann schon im Wartezimmer medizinische Voruntersuchungen übernehmen. Das spart Zeit, Personal und Geld – viele Kliniken warten schon sehnsüchtig auf die Zulassung und Serienreife.
Herr Dr. Langejürgen, Sie haben in einem Forscher-Team der Abteilung „Klinische Gesundheitstechnologien“ des Fraunhofer Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) und Ärzten des Universitätsklinikums Mannheim einen digitalen Anamnese-Sessel entwickelt. Schon im Wartezimmer kann der Sessel dank Sensoren EKG, Blutdruck, Sauerstoffsättigung, Körpertemperatur und andere Vitalparameter messen. Ein virtueller Arzt nimmt parallel dazu die Krankengeschichte sowie Symptome auf und erklärt die anstehende Behandlung. Das spart Zeit, Personal und Doppel-Abfragen. Wie lange hat diese Entwicklung gedauert?
Dr.-Ing. Jens Langejürgen: Die Entwicklung des Anamnese-Sessels hat etwa eineinhalb Jahre gedauert – vom Entwurf bis zu dem Zeitpunkt, als eine erste Version in der Klinik stand. Natürlich verbessern wir auch jetzt noch einzelne Aspekte.
Sie haben aber noch mehr geplant – Stichwort: Krankenhaus der Zukunft.
Langejürgen: TEDIAS heißt das Projekt, das im Rahmen des Forums Gesundheitsstandort Baden-Württemberg gefördert wird. Das steht für Test- und Entwicklungsumgebung für digitale Patientenaufnahmesysteme – und umfasst noch viel mehr: Software und Infrastruktur. Es ist eine Umgebung, um Entwicklungsprozesse im Bereich der digitalen Patientenaufnahme voranzutreiben. Wir haben festgestellt, dass es in der Patientenaufnahme zwar viele kleine Tools gibt, aber kaum durchgängige Lösungen. Die wollen wir mit TEDIAS schaffen.
Noch ist der Anamnese-Sessel ein Prototyp. Können sie sich vorstellen, dass er bald in Serie geht?
Langejürgen: Ja, Anfragen von Kliniken gibt es. Wir haben diesen Prototypen schon sehr früh auf verschiedenen Messen gezeigt. Und ich habe bisher noch kein Forschungsprojekt erlebt, auf das die Resonanz so groß war – nicht aus der Forscherwelt, sondern aus der Anwenderwelt. Auf uns sind viele Ärzte zugekommen, von denen ich erst dachte, na ja – die werden jetzt sagen: „Das ist Zukunftsmusik.“ Oder: „Ich will Krankheiten heilen, bleib mir doch mit so einem Stuhl weg.“ Stattdessen habe ich oft gehört, dass die Patientenaufnahme ein Prozess ist, der nie durchgehend mit hoher Qualität durchgeführt wird, sondern bei vielen ein Schmerzpunkt ist. Es gab Kliniken, die gefragt haben: „Wann steht der hier?“ Die wollen den Sessel – dabei ist es noch gar kein zugelassenes Medizinprodukt.“
Können Sie diesen Kliniken konkrete Hoffnungen machen?
Langejürgen: Das tue ich schon jetzt. Wir hören uns um, ob jemand mit von uns entwickelten Komponenten in eine Ausgründung gehen könnte oder gehen auf Hersteller zu, die vielleicht Teilkomponenten davon entsprechend übernehmen können. Wir gehen immer mit dem Verwertungsgedanken in Projekte. Damit wir am Schluss nicht nur etwas Schönes zum Anschauen haben, sondern daraus ein Produkt machen zu können, das Mehrwert für die Gesellschaft bietet.
Der Sessel bietet also nicht nur Mehrwert für die Gesellschaft, sondern auch für Wirtschaftsstandorte – für Hersteller, die dann mit in dieses Projekt einsteigen?
Langejürgen: Absolut. Es bietet Chancen für Firmen, die etwa im Bereich Chatbot-Programmierung tätig sind oder in der Visualisierung, die Entscheidungsassistenten für Kliniken konzipieren. Firmen, die sich auf Sensorik, medizinische Messtechnik, Versorgung, Klinik-IT oder Product Design spezialisiert haben. Für all diese Bereiche bieten wir ein sehr niederschwelliges Angebot, eigene Produkte in dieser Testumgebung zu untersuchen. Wir haben aus vielen dieser Bereiche schon Anfragen, und prüfen, ob das entsprechende Produkt in den Prozess der digitalen Anamnese integrierbar ist.
Welche Weiterentwicklungen sind vorstellbar? Was kann der Anamnese-Sessel jetzt schon, was werden er und andere digitale Anamnesesysteme künftig können?
Langejürgen: Vorstellbar ist, bestimmte Produkte durch andere, bessere Produkte zu ersetzen. Wir wollen auch weitere sensorische Aspekte unterbringen. Auch der von uns eingesetzte Avatar, der durch die digitale Anamnese führt, kann noch optimiert werden. Derzeit spricht er Deutsch. Es ist eigentlich ein Leichtes, ein anderes Sprachpaket herunter zu laden und dann multilingual Patienten aufzunehmen, was sicherlich ein absoluter Benefit wäre. Momentan nutzen wir einen Avatar mit Chatbot, der Sie durch den Prozess führt. Allerdings ist er sehr linear: Auf Frage eins folgt Frage zwei. Die Möglichkeit der Interaktion mit dem Patienten lässt sich noch viel offener gestalten. Dass der Chatbot beispielsweise, wenn Patienten nachfragen, offen oder mehrsprachig antwortet. Im Hinblick auf die Bauform haben wir auf Messen festgestellt, dass es relativ aufwändig ist, ein so großes Gerät auf- und wieder abzubauen. Kliniken beklagen Platzmangel. Wir überlegen derzeit, wie man diesen Punkt optimieren kann und den Sessel in kostengünstiger Massenfertigung anbieten kann.
Einer der Vorteile der digitalen Anamnese ist Zeitersparnis. Wenn nicht jedes Messergebnis händisch dokumentiert werden muss, lässt sich Zeit, die vielleicht für ein Behandlungsgespräch fehlt, sinnvoll nutzen. Können Sie beziffern, wie viele Personalstunden digitale Messtechnik einspart?
Langejürgen: Ja, wir haben uns Aufnahmegespräche und den gesamten Prozess angeschaut. angeschaut. Deutschlandweit gibt es etwa 13 Millionen Patientenaufnahmen pro Jahr, wobei das fast alle Arten von Aufnahmen umfasst. Allein hier in der Klinik – einer einzelnen Klinik innerhalb der Universitätsklinik – liegen wir bei Tausenden geplanter Aufnahmen. Wir haben festgestellt, dass für Dokumentation und Vorbereitung bis zu 20 Minuten drauf gehen. Dann können Sie sich vorstellen, was Sie an Zeit sparen.
Gibt es noch weitere Pluspunkte von TEDIAS beziehungsweise dem Sessel?
Langejürgen: Wir benötigen digital strukturierte Daten. Dann haben wir nämlich nicht nur Daten, die wir für Dokumentationen oder die Abrechnung brauchen, sondern welche, die sich analysieren lassen. Das Problem analoger Aufnahme ist: Ein Arzt wird seine eigene Dokumentation noch verstehen, vielleicht der Kollege auch noch. Aber eine Klinik oder Abteilung weiter wird die Dokumentation vielleicht anders erfolgen oder interpretiert werden. Wenn man diesen Prozess standardisiert, profitiert man nicht nur von Zeitersparnis, sondern auch von höherer Datenqualität. Dann lässt sich zum Beispiel erkennen, dass bestimmte Patientenkohorten besonders schlecht auf bestimmte Medikamente und Behandlungen reagieren oder besonders lange in der Klinik bleiben. Ganz ohne dass dafür eine extra Studie erfolgen muss.
Wie hoch wäre das finanzielle Einsparpotenzial für das Gesundheitssystem?
Langejürgen: In einer ersten Schätzung nur für einige elektive Eingriffe in größeren Häusern gehen wir von einer Zeitersparnis für Dokumentation und Mehrfachabfragen von 20 Minuten pro Fall aus. Damit ergeben sich bereits einige zehn Millionen Euro pro Jahr, die eingespart werden können. Insgesamt ist das Potenzial noch deutlich größer.
Kliniken müssen sich darüber im Klaren sein, dass so ein Sessel oder ein digitales System zunächst Kostenfaktoren sind. Ab wann lohnt sich diese Investition – und lohnt sie sich für jede Klinik?
Langejürgen: Das ist eine gute Frage, die wir uns selbst gestellt haben. Auch wir mussten uns in einen möglichen Business Case hineindenken: Wer sind die Primärkunden? Unsere Zielgruppe sind Maximalversorger. Zunächst die Universitätskliniken, weil sie hohe Patientenzahlen, aber auch einen starken Innovationsgedanken und entsprechendes Budget haben. Und die Manpower im IT-Bereich, um neue Technologien am Laufen zu halten. Definitiv auch Klinikketten, weil sie standardisierte Prozesse für ihre Häuser benötigen. Interessant sind auch Einrichtungen, die Studien durchführen.
Derzeit prüfen Sie in einer Studie die Messgenauigkeit des Sessels. Kann man sich auf ihn verlassen?
Langejürgen: Die Ergebnisse der Studie sind noch nicht veröffentlicht. Die Messgenauigkeit ist gewährleistet, denn wir versuchen zum allergrößten Teil zugelassenen Medizintechnikprodukte zu verwenden. Zum anderen stellt sich bei der Genauigkeit die Frage: Wie genau hat das Gerät gemessen, wenn es richtig bedient wurde? Hatte der Patient Probleme damit, Messungen durchzuführen? Hat er das vielleicht falsch gemacht? Oder sind die Daten, die erhoben wurden, nicht an unser System weitergegeben worden? Auch das scheint nur ein Detail zu sein, aber es ist gar nicht so einfach, weil in dem Sessel Systeme von verschiedenen Anbietern integriert sind, die ja gar nicht dafür vorgesehen waren, in so einen Stuhl eingebaut zu werden. Dennoch: Bei einem absoluten Großteil der Patienten hat die Datenerhebung korrekt funktioniert. Was uns beweist: Grundsätzlich geht das gut. Im Gegenzug muss man sich ansehen, welches Ergebnis man erhalten hätte, wenn eine Schwester die Werte einzeln gemessen hätte.
Erstaunlich. Geht nicht gerade Älteren in diesem Sessel der Puls vor Nervosität hoch, und dann die Messung nicht mehr ?
Langejürgen: Wir hatten Patienten bis zum Alter von 81 Jahren auf diesem Stuhl, man kann also nicht sagen, die Senioren können nicht damit umgehen – die können das super. Fast alle haben durchweg positiv geantwortet und fanden den Sessel gut. Der wichtigste Punkt ist für mich die Akzeptanz. Wie findet der Patient so ein System? Wenn er den Sessel angenehm und attraktiv findet, empfindet er sich als Teil des Prozesses und das Ganze nicht als unpersönlich. Dann verwendet er das System auch so, wie es vorgesehen ist. Das ist die so genannte Compliance.
Was macht den Sessel denn angenehmer als den Wartezimmerstuhl?
Langejürgen: Wir haben uns attraktive Designs angesehen – angelehnt an Erster-Klasse-Airlinesitze. Der Sessel darf nicht aussehen wie ein steriles Medizinprodukt. Deswegen ist er auch entsprechend farblich ausgelegt. Das Gleiche trifft auf den Avatar zu. Eigentlich ist er für die reine Datenerhebung nicht notwendig. Aber die Interaktion mit dem Avatar – und das hätte ich selbst am Anfang des Projektes nicht so stark erwartet – vermenschlicht den Prozess.
Und ich hätte vermutet, dass der Avatar sogar Verwirrung stiftet, wenn anschließend ein Arzt weiter behandelt. Wissen Patienten am Ende überhaupt noch, mit wem sie „life“ und mit wem sie virtuell gessprochen haben?
Langejürgen: Derzeit sieht es nicht so aus, dennoch kann man diese Hypothese aufstellen. Gerade deswegen mussten wir diesen Punkt untersuchen. Es lässt sich im Bereich der der Animation viel machen – etwas, das so unrealistisch für mich aussieht, dass ich das Gefühl habe, ich sitze einer Maschine gegenüber, ist nicht gut macht. Etwas, das zu realistisch wirkt, hat allerdings auch einen negativen Effekt. Daher haben wir die Möglichkeit, diesen Avatar auf verschiedene Arten zu gestalten. Derzeit bilden wir den Arzt, der behandelt ab. Man könnte aber auch zum Beispiel Avatare mit anderem kulturellem Hintergrund nehmen. Wir hatten auch schon Kinder auf dem Stuhl. Von ihnen haben wir natürlich keine Daten erfasst, sie wollten sich das auf einem KiTa-Ausflug angucken. Sie fanden es toll. Ihr Vorschlag war: Kann man aus dem Avatar nicht einen Pokémon machen? Es gibt also kein „One Size fits all“. Aber die Möglichkeit, einen Avatar, seine Sprache, und das Aussehen anzupassen, wurde in der untersuchten Kohorte positiv aufgenommen. In der Geriatrie werden sie einen anderen Avatar einsetzen als in der Kinderklinik. Man kann das Gegenüber finden, das zum Patienten passt.
Sie sind also optimistisch, dass der Sessel auch von den Patienten so begeistert aufgenommen wird wie von den interessierten Kliniken?
Langejürgen: Man muss den Patienten vermitteln: Du hast eine Wartezeit und zwei Möglichkeiten: Du kannst Dich auf einen typischen Warteraum-Plastikstuhl setzen oder in den Anamnese-Sessel, wo Du schon mithelfen kannst. Beides ist okay. Im zweiten Fall triffst Du einen Arzt, der bereits die Informationen hat und jetzt darauf wartet, diese mit Dir zu besprechen. Ich selbst würde, wenn ich erkenne, dass mir das also etwas bringt, den zweiten Weg wählen.
Zur Person
Dr.-Ing. Jens Langejürgen leitete den Forschungsbereich „Klinische Gesundheitstechnologien und -prozesse“ am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA). Gemeinsam mit dem Universitätsklinikum Mannheim entwickelt das Forscherteam unter dem Namen „TEDIAS – Test- und Entwicklungsumgebung für digitale Patientenaufnahmesysteme“ das Krankenhaus der Zukunft. Der Anamnese-Sessel ist Teil des Projekts.
Interview: Natalie Kotowski