Nachhaltiges Bauen heißt auch „Urgesteine“ bewahren, statt neu zu bauen

Wenn es um nachhaltiges Bauen geht, ist die Herkunft von Baustoffen oft entscheidender als bestimmte Eigenschaften. Ökologisch sinnvoll sind vor allem natürliche, regionale Materialien mit langfristigem Potenzial. Genau diese Vorzüge stecken in Bestandsbauten, sagt Christoph Herzog, Vorsitzender der Heilbronner Architektenkammer.

Eine alte Methodistenkirche beherbergt heute das Architekturbüro von Christoph Herzog. Foto: David Franck, Ostfildern/Oliver Rieger, Stuttgart

Das Heilbronner Rathaus ist sprichwörtlich ein Urgestein. Wenn die Sonne scheint, glitzern die Fassaden des historischen Altbaus, als seien sie stolz auf ihre regionale Bedeutung. Das Glitzern liegt an den  winzigen Glimmerplättchen in ihrem  Baumaterial, dem „Heilbronner Sandstein“. Der hellbraun-gelbliche Schilfsandstein mit seinen typischen, gleichmäßigen Ton-Eisen-Flecken reflektiert nicht nur das Licht, sondern auch seine kulturhistorische Bedeutung für sakrale und säkulare Bauten: Auch die Kilianskirche, der Rote Turm in Bad Wimpfen, das Heidelberger Schloss und sogar Schmuckfiguren am Kölner Dom stammen aus den Steinbrüchen des Heilbronner Lands. Das mehr als 200 Millionen Jahre alte Keuper-Gestein der sogenannten Stuttgarter Formation wird bis in die heutige Zeit rund um Sontheim und das Jägerwaldhaus abgebaut. Es hat Jahrhunderte überdauert und überzeugt Bau-Experten nicht nur mit seinen Materialeigenschaften, sondern vor allem mit seinem in Zeiten des Klimawandels größten Pluspunkt: Es lagert quasi vor der Haustür.

Dass Bauherren schon im Mittelalter wussten, worauf es ankommt, kann Diplom-Ingenieur Christoph Herzog, Inhaber des Heilbronner Architekturbüros „herzog + herzog“, bestätigen: „Wenn man sich die frühen Baumeister anschaut, wurden deren Gebäude hauptsächlich mit ortstypischen Materialien erbaut“, berichtet er. Das Heilbronner Rathaus mit seinen gelblichen Quadern aus dem Jägerwaldhaus-Steinbruch sei ein Paradebeispiel, denn es war schon Ende des 13. Jahrhunderts „äußerst nachhaltig in Bezug auf den Herstellungsort, die Transportwege und die Langlebigkeit des Materials.“

Regionale, kreislauffähige und CO₂-sparende Baustoffe

Eine Lehrstunde in Geschichte und Erdkunde ist für nachhaltiges Bauen also hilfreicher als die neuesten Trends? Beides ist wichtig, sagt Herzog mit Blick auf Unternehmen, die in Heilbronn-Franken aktuell oder in Zukunft ressourcenschonend und klimafreundlich bauen wollen: „Nachhaltiges Bauen sollte auf eine Kombination aus regionalen, kreislauffähigen und CO₂-sparenden Baustoffen setzen“. Ein Blick in vergangene Zeiten kann also offenbar nicht schaden.

Dennoch benötigt nachhaltiges Bauen aus Herzogs Sicht auch Innovation und Fortschritt. Damit meint er nicht unbedingt die Wahl des Baustoffs allein, sondern den ganzheitlichen Blick auf das Thema Nachhaltigkeit – der Kammervorsitzende mahnt zu einem „besonnenen, ehrlichen und ressourcenschonenden Umgang in allen Bereichen“. Sei es bei der Schaffung von neuem, zusätzlichen Wohnraum, bei der Erschließung neuer Flächen und Grundstücke, wo es gelte, Flächenversiegelungen zu vermeiden, oder bei der Verwendung von Baumaterialien.

Nachhaltiges Bauen heißt auch erhalten, umbauen oder ergänzen

Herzog appelliert dabei an die Kreativität von Architekten, Planern und den Verantwortlichen einzelner Gewerke, denn „Gebäude benötigen, um attraktiv zu bleiben, auch attraktive und alternative Nutzungsmöglichkeiten für die Zukunft.“ Besonders wichtig sei es, den Bestand und die Baulücken intelligent einzuplanen. „Nachhaltig heißt auch: erhalten, umbauen oder ergänzen, anstatt alles neu zu errichten“, sagt er.

Das passende Anschauungsobjekt zur cleveren Umnutzung von Bestand liefert der Heilbronner Architekt sozusagen aus erster Hand: „Als Beispiel erwähne ich gern unser Architekturbüro in einer ehemaligen kirchlichen Kapelle – ein leerstehendes Kirchengebäude, das zu einer neuen Nutzung geführt wurde. Im Vergleich dazu: ein Neubau hätte einen immens höheren Energieaufwand benötigt, mit weiteren zusätzlichen Baustoffen und Materialen in einer zukünftigen Kreislaufwirtschaft“, sagt Herzog. Ein anderes Beispiel aus seiner  Erfahrung: Ein vorhandener, in die Jahre gekommener Gebäudeteil der Heilbronner Lindenparkschule. Er wurde nicht Opfer der Abrissbirne, sondern stattdessen erhalten, entkernt und anschießend umfassend saniert.

Christoph Herzog setzte auch bei der Lindenparkschule nicht auf Neubau, sondern auf kluge Sanierung. Foto: herzog + herzog freie architekten bda

Bestandsbauten mit neuen Konzepten wiederverwenden

Nun sind nicht alle Bestandsbauten architektonische Meisterstücke und „Urgesteine“ wie das Heilbronner Rathaus. Dennoch lohnt sich aus Herzogs Sicht eine Rückbesinnung auf „alte Werte“ und gleichzeitige, visionäre Modernisierung. Egal, ob dabei aus sakralen Mauern profane Büros werden, Schulen neu gestaltet oder Firmensitze und Werkshallen regionaler Unternehmen nicht nur digital, sondern auch architektonisch transformiert werden. Der Kammervorsitzende ist überzeugt, „dass das ‚Wiederverwenden‘ von Bestandsbauten mit neuen Nutzungskonzepten zukünftig die größte Rolle spielen wird“. Der größte Teil der Umweltbelastung entstehe bereits bei der Herstellung und Errichtung eines Gebäudes. Abriss und Neubau bedeuteten hohe CO₂-Emissionen. „Durch den Erhalt und die Anpassung von Bestandsbauten bleibt die ‚graue Energie‘ erhalten“, sagt Herzog, „und das ist nachhaltiger als Recycling allein.“

Gleichwohl müsse die Recyclingfähigkeit und Wiederverwendbarkeit von Bauteilen und Materialien bei jedem Gebäude – auch und speziell für die Zukunft – bei der Errichtung neuer Gebäude stärker im Fokus bleiben. „Das Thema Wiederverwertung im Zusammenhang mit Umnutzung oder einem kontrollierten Rückbau am Lebensende eines Gebäudes wird in Zukunft jeden in irgend einer Form beschäftigen“, ist Herzog überzeugt.

Doch in welchem Bereich wird in Zukunft das größte Potenzial von Nachhaltigkeit bei Entwurf und Planung liegen? Fest steht nach Ansicht von Kammerchef Herzog: Wenn Unternehmen und private Bauherren in Heilbronn-Franken sich für Neu statt Alt entscheiden, sollten sie vorab gemeinsam mit den beauftragten Planungsbüros einige Überlegungen anstellen, die vor dem Hintergrund technischer Entwicklungen und Klimaanpassung künftig immer wichtiger werden. 

Nachhaltiges Bauen - Heilbronner Rathaus
Die Sandsteinfassade des Heilbronner Rathauses glitzert in der Sonne. Das Material stammt aus dem Steinbruch Jägerwaldhaus – und damit ganz aus der Nähe. Foto: AdobeStock/EWYMedia

Besonnener Umgang mit Technik und Baumaterialien

„Beim Entwurf beginnt es mit der Gebäudeform, über die Orientierung nach Himmelsrichtungen, die Anordnung von Räumen bis zur Größe und Lage von Fenstern und Verglasungen für solare Gewinne“. Immer entscheidender werde auch die Nutzung von erneuerbaren Energien, die übergreifend genutzt werden müssten – etwa Solarstrom, der auch für die Mobilität zum Gebäude und vom Gebäude zurück zum Auto oder Fahrrad verteilt werden könne.  Es bedürfe eines besonnenen Umgangs mit sämtlichen Einbauten wie Technik und Baumaterialien. 

Unternehmen, die ein neues Büro- oder Produktionsgebäude planen, rät der Heilbronner Architekt, den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes zu betrachten:  „Es muss sich zukünftig im Verlauf seiner Lebensdauer auch neuen Bedingungen und Nutzungen einfacher und schneller anpassen können. Gebäude sind nicht mehr als feste Bestandteile zu sehen, sondern müssen dynamisch veränderbar sein, um den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen  und klimatischen Veränderungen sowie unseren Wünschen an eine bessere, gebaute Umwelt und einer lebenswerteren, attraktiven Stadt gerecht zu werden.“

Nachhaltiges Bauen in Kreisläufen

Was die Natur mit dem ewigen Kreislauf der Jahreszeiten vormacht, wird also für die Bauwirtschaft in Bezug auf Nachhaltigkeit zum Zukunftsmodell: denken, planen und bauen in Kreisläufen. „Vom Wertschätzen und Weiterbauen des Bestehenden über das Wiederverwenden von Materialien und Bauteilen bis zur Entwicklung eines komplett zerlegbaren Gebäudes – die Facetten des so genannten zirkulären Bauens sind vielfältig, komplex und vielversprechend“, heißt es seitens der Architektenkammer. Unter dem Motto „Kreislauf“ – das auch den Nachhaltigkeitsaspekt umfasst – steht deshalb in diesem Jahr auch die Veranstaltungsreihe „Heilbronner Architekturgespräche“.


Heilbronner Architekturgespräche 2025

Die nächsten „Heilbronner Architekturgespräche“ 2025 beginnen am 26. März um 19 Uhr mit einer Hybrid-Veranstaltung mit Matthias Haber vom Architekturbüro Hild & K zum Thema „Projekte von heute sind der Bestand von morgen“ im Bad Mergentheimer Kurhaus, Lothar-Daiker-Straße 2.

„Wie Architektur das Potenzial hat, die Zukunft positiv mitzugestalten“, verrät Margit Sichrovsky, Professorin für klimagerechte und ressourceneffiziente Architektur und Entwerfen an der Hochschule für Technik in Stuttgart und Mitgründerin von LXSY Architekten am 4. Juni, ebenfalls um 19 Uhr in der Innovationsfabrik 2.0 im Zukunftspark Wohlgelegen in Heilbronn.

Thomas Steimle, Gründer von Steimle Architekten in Stuttgart und Überlingen, referiert am 22. Oktober ab 19 Uhr in der Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall darüber, „Wie Bestehendes und Neues einander ergänzen“.

Den Abschluss bildet der Vortrag „Warum Architektur nicht zum Selbstzweck werden darf“ mit Barbara Poberschnigg online am 19. November ab 19 Uhr.

Interessierte können sich unter www.heilbronner-architekturgespraeche.de anmelden.


In dieser Reihe, die vor 30 Jahren von der Kammergruppe Heilbronn der Architektenkammer Baden-Württemberg, der Kreisgruppe Franken im Bund Deutscher Architektinnen und Architekten, der IHK Heilbronn-Franken sowie den Städten Bad Mergentheim, Heilbronn, Neckarsulm und Schwäbisch Hall ins Leben gerufen wurde, zeigen Planer, wie sie die Prinzipien des kreislaufgerechten Bauens zunehmend in ihre Praxis integrieren – bei der Stadtplanung, im Umbau des Bestands und für Neubauten.

Die Referenten illustrieren, wie sich Planungsprozesse weiterentwickeln, wie sich die Ästhetik von Bauten verändert und welcher Mehrwert für Architektur und Gesellschaft entstehen kann. Schließlich „ist nichts so beständig wie der Wandel“, sagt Herzog. Andererseits: Manche Urgesteine trotzen erfolgreich aktuellen Trends. Die Sandsteinfassaden des Heilbronner Rathauses glitzern bis heute in der Sonne. Der nicht namentlich überlieferte Rathaus-Baumeister dürfte jedenfalls nicht damit gerechnet haben, dass der Lebenszyklus seines Werkes mehr als sieben Jahrhunderte währt.                               


Zur Person

Christoph Herzog ist Diplom-Architekt und Vorsitzender der Kammergruppe Heilbronn in der Architektenkammer des Landes Baden-Württemberg. Bei herzog + herzog freie architekten (bda) arbeitet er gemeinsam mit seinem Vater Karl-Adolf Herzog und seiner Tochter Antonia.


Natalie Kotowski

Mehr zum Thema

Klimaschonend bauen und sanieren

Klimaschonend bauen und sanieren: Unternehmen in Heilbronn-Franken zeigen wie es geht

Klimaschonend bauen und sanieren ist die Zukunft. Doch wie schneidet Heilbronn-Franken dabei ab? Zwei Beispiele aus der Region zeigen, wie …
kreislaufwirtschaft im bauwesen

Nachhaltiges Bauen durch Kreislaufwirtschaft: Chancen und Herausforderungen der Zukunft

Baumaterialien zu 100 Prozent wiederzuverwerten und genau zu wissen, wo welche Materialien in welcher Menge bei einem Abriss – und …
Nachhaltiges Bauen

Die vielen Gesichter des Nachhaltigen Bauens

„Nachhaltig Bauen“ liegt im Trend – und hat sich inzwischen zu einer Art Modebegriff entwickelt. Dabei geht es jedoch um …