Mit Bram Stokers „Dracula“ geht die Theatertruppe der Freilichtspiele Neuenstadt in der Sommersaison neue Wege: In diesem Jahr führt das Ensemble auf der Schlosstreppe keine Komödie auf, sondern erzeugt Gänsehaut in lauen Nächten.

Erst ist er charmant, freundlich und eloquent. Doch sobald er merkt, dass sein Gegenüber Vertrauen fasst, zeigt er sein wahres Gesicht: die Fratze eines Sadisten, der umso stärker wird, je mehr er andere schwächt. Ob der irische Schriftsteller Bram Stoker im Jahr 1897 ahnen konnte, dass er mit der Figur des Grafen Dracula einen Charakter beschrieb, den manche heute einen Narzissten nennen würden? Stokers weltbekannter Blutsauger hat schon viele Kulturwissenschaftler beschäftigt – oft wurde der Roman als Metapher für die sozialen, politischen und kulturellen Ängste des späten 19. Jahrhunderts interpretiert.
Für das Ensemble der Freilichtspiele Neuenstadt stand deshalb fest: Der Gruselklassiker trifft in der heutigen Zeit, in der sich viele Menschen verunsichert und „leer“ fühlen, einen Nerv. Deshalb treibt in dieser Sommersaison „Dracula“ auf der Freilichtbühne im Graben zwischen Renaissanceschloss und Kocher-Jagst-Radweg sein Unwesen. „Wir wollten dem Publikum in diesem Jahr etwas anderes bieten als die Komödien, die wir in den vergangenen Jahren gespielt haben“, sagt Andreas Großkopf. Er ist Geschäftsführer der Freilichtspiele Neuenstadt, die seit 1958 eine eigene Abteilung des Vereins Liederkranz 1835 e.V. Neuenstadt bilden.
Bram Stokers „Dracula“ bei den Freilichtspielen Neuenstadt
In den vergangenen 67 Jahren haben die Aufführungen des Laien-Ensembles das Publikum jeden Sommer mit Schauspielkunst unter freiem Himmel begeistert. Jährlich sehen mehr als 22.000 Theaterfans die Aufführungen, die von Juni bis zum Herbst im Amphitheater am Schlossgraben, im Winter im Kleinen Lindentheater oder auf der Jungen Kammerbühne zu sehen sind.
Großkopf ist sich sicher, dass „Dracula“ die Zuschauer bis zur letzten Aufführung am Sonntag, den 27. Juli sprichwörtlich gefangen nimmt, obwohl es diesmal wohl keine lauten Lacher geben wird: „Unsere lustigen Stücke kamen sehr gut an, aber wir bekamen immer wieder die Rückmeldung, dass wir zur Abwechslung gern auch etwas Ernstes zeigen sollten. Für uns ist das eine Herausforderung“, sagt der Geschäftsführer. Erstmals in der Geschichte der Freilichtspiele gebe es deshalb eine Altersempfehlung: Dracula ist für Zuschauer ab zwölf Jahren geeignet.
Tatsächlich ist die Story um den englischen Anwalt Jonathan Harker, den der ominöse Graf unter einem Vorwand auf sein Schloss in die Karpaten lockt und einsperrt, nichts für Zartbesaitete. Auch den Darstellern verlangt die tiefgründige Geschichte einiges ab. Angst um Harkers Verlobte Mina, die mit ihrer Freundin Lucy in die Fänge des mordenden Aristokraten gerät. Verzweiflung und die schwindende Kraft der Frauen. Die janusköpfige Bosheit Draculas. Mut und Genie des Vampirjägers Van Helsing, der den Kampf aufnimmt: Jede Rolle erfordert von den Schauspielern ein präzises Psychogramm der Figur, die sie verkörpern, um die Atmosphäre des Stücks authentisch zu transportieren. Dass die Rolle des klugen Van Helsing weiblich besetzt ist, hält Großkopf für durchaus zeitgemäß: „Man muss auch mal andere Wege gehen“, sagt er – und „Rollenbilder“ neu denken.
Natalie Kotowski
Bram Stokers „Dracula“ bei den Freilichtspielen Neuenstadt
Bram Stokers „Dracula“ hat bei den Freilichtspielen Neuenstadt bereits am Freitag, den 13. Juni Premiere gefeiert. Bis Sonntag, den 27. Juli 2025 wird das Stück dort nun regelmäßig zu sehen sein. Die genauen Termine und Tickets finden Sie hier.