Ulrike Malmendier: „Die Region Heilbronn-Franken hat eine Vorreiterrolle“

„Entwicklungen wie in Heilbronn-Franken sind genau die, die Deutschland jetzt benötigt“ – das sagt nicht irgendwer, sondern Prof. Dr. Ulrike Malmendier, die als Mitglied im Sachverständigenrat Wirtschaft die Bundesregierung berät. Für das PROMAGAZIN greift die „Wirtschaftsweise“ die wichtigsten Themen auf, die insbesondere unsere großen Arbeitgeber aktuell umtreiben – von der Bedeutung der Trump-Wiederwahl über die Rolle der EU, bis zur Fachkräftesuche und dem Mut zum Experimentieren.

„Das Unsicherheitsgefühl muss dringend aus den Köpfen heraus“, sagt Top-Ökonomin und „Wirtschaftsweise“ Prof. Dr. Ulrike Malmendier. Foto: Sachverständigenrat Wirtschaft/Stefan Völkner

Frau Malmendier, sind deutsche Unternehmer aktuell pessimistischer als amerikanische?

Prof. Dr. Ulrike Malmendier: Im Durchschnitt auf jeden Fall. Vermutlich sind sie sogar deutlich pessimistischer.

Woran liegt das?

Malmendier: Das hat mit harten ökonomischen Fakten zu tun: In den USA haben wir ein beeindruckendes Wirtschaftswachstum erlebt. Dort ist das Bruttoinlandsprodukt über die letzten fünf Jahre insgesamt um zwölf Prozent gewachsen, in Europa im gleichen Zeitraum nur um vier Prozent – und in Deutschland um 0,1 Prozent. Daher gibt es in den USA deutlich mehr Grund zu Optimismus als in Deutschland. Es kommt aber noch eine interessante Facette hinzu: Wenn man sich die Umfragen anschaut, beschäftigt deutsche Unternehmen auch die Frage zunehmender Unsicherheit – und zwar nicht nur der wirtschaftlichen Unsicherheit, sondern auch der politischen. Die Unternehmer sagen, sie halten sich zurück, weil sie nicht genau wissen, wie es in Deutschland wirtschaftspolitisch weitergeht.

Wundert Sie das?

Malmendier: Was mich immer ein bisschen überrascht: Bei all den Fragen, die man haben kann, etwa über das vergangene wirtschaftspolitische Hin- und Her der Ampel – die Lage  war in Deutschland niemals so unsicher wie sie es in China ist, und da investieren die deutschen Unternehmen munter. Das Unsicherheitsgefühl muss jedenfalls dringend aus den Köpfen heraus, und das kann man nur mit klaren wirtschaftspolitischen Leitlinien schaffen.

Apropos Wahlen und Unsicherheit: Ist dieser Optimismus der Amerikaner mit der Wiederwahl von Donald Trump noch einmal gewachsen?

Malmendier: Das würde ich für die Unternehmensseite schon sagen. Das Wahlergebnis hat dort zu einem weiteren Stimmungsauftrieb geführt. Wenn jemand ins Weiße Haus zieht, der klar gesagt hat, Unternehmen fördern  zu wollen – sowohl von steuerlicher Seite als auch in puncto Regulierung, etwa bei Merger-Aktivitäten, also Fusionen, dann ist das für Unternehmer eine gute Nachricht. Ob das für die Konsumenten gut ist, ist eine andere Frage.

Mit Trump gibt es also die Aufbruchstimmung, die Deutschland ein bisschen fehlt?

Malmendier: Genau. Sicher kommt es auch auf die Unternehmensbereiche an. Man muss allerdings abwarten, was sich bei dem ganzen Lärm und den Schlagworten um Zölle am Ende herauskristallisiert. Die dürften nämlich auch für amerikanische Unternehmen zu einem deutlichen Anstieg der Unsicherheit führen.

Was könnte das am Ende für den deutschen Export bedeuten?

Malmendier: Die Androhung von Strafzöllen ist für deutsche Exportunternehmen keine gute Nachricht. Die Dinge werden sich verkomplizieren. Viele deutsche Unternehmen sind aber recht gut aufgestellt, um gegebenenfalls einfach in den USA mehr zu produzieren. Für sie ist es keine so schlechte Nachricht, wie man zunächst denken mag. Deutsche Unternehmen haben auch in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, wie anpassungsfähig sie sind. Das Phänomen kennen wir aus China: Die Chinesen bestehen inzwischen zunehmend auf eine Produktion „in China, for China“ anstelle von Importen. Die Deutschen haben darauf reagiert und produzieren halt vermehrt in China. Das könnte in den USA sehr ähnlich ablaufen.

Es gibt auch unter den Weltmarktführern unserer Region Heilbronn-Franken schon Beispiele für solche strategischen Entscheidungen.

Malmendier: Ganz genau. Was ich hoffe, ist, dass den Europäern klar wird, welchen Vorteil sie sich vergeben, wenn sie den EU-Binnenmarkt nicht weiter vorantreiben: einen einheitlichen Markt  schaffen und auf der Finanzierungsseite eine Kapitalmarkt-Union anstreben. Das könnte ein eindrucksvolles Gegenmittel angesichts der globalen Entwicklungen sein.

Diese Bestrebungen hätte man doch schon nach der Finanzkrise forcieren können?

Malmendier: Ja, das war schon immer  ein vergebener Vorteil, damals genauso wie jetzt. Aber wann, wenn nicht jetzt, ist der Moment, mit aller Energie in diese Idee reinzugehen und sie umzusetzen. Jetzt lohnt es sich mehr denn je zuvor, die Harmonisierung europäischer Märkte voranzutreiben und grenzüberschreitende Finanzierungen zu erleichtern.

In den USA war die Stimmung bei Unternehmern zuletzt optimistischer als in Deutschland. Foto: Adobe Stock/ bravissimo

Warum sollte das spätestens jetzt angepackt werden?

Malmendier: Aus mehreren Gründen: Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft wurde dafür geschaffen, Zölle abzubauen und den wirtschaftlichen Austausch zu vereinfachen. Einen Handelskrieg werden wir in Europa nicht erleben.  In Europa können wir uns also darauf konzentrieren, die innereuropäischen Absatzmärkte zu stärken, statt uns mit ineffizienten Zöllen zu verzetteln. Zweitens: In internationalen Verhandlungen können einzelne EU-Länder – und das schließt auch Deutschland ein – nicht mit dem gleichen Gewicht auftreten wie die USA oder China. Als EU wären wir aber sehr mächtig – und das ist die Sprache, die international verstanden wird.

Und wenn wir nur auf Deutschland und die aktuellen Gegebenheiten blicken – können wir es uns als Exportnation leisten, nur den Status Quo zu verwalten?

Malmendier: Absolut nicht! Das gilt auch unabhängig von der Exportnation-Frage. Es ist ein Phänomen jeder hoch entwickelten Volkswirtschaft, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion irgendwann nicht mehr in dem gleichen Maße wächst, wie es vorher der Fall war. Das ist ist das Gesetz der Wachstumstheorie. Um dem entgegenzuwirken, muss sich eine Wirtschaft  weiterentwickeln, und zwar indem sie  innovativen Unternehmen und neuen Technologien eine Chance und gute Rahmenbedingungen bietet. Die großen traditionellen Säulen der deutschen Wirtschaft, wie etwa die Chemie-, Automobil- und Maschinenbau-Industrien, bleiben natürlich wichtig; aber Chance kommen zumeist von kleineren, innovativen Unternehmen, wie zum Beispiel im Bereich der Bio- und Life-Sciences oder der Künstlichen Intelligenz.

Man hat aber das Gefühl, es fehlt manchen noch die Fantasie, dass diese neuen Branchen in Zukunft eine herausragende Bedeutung gewinnen.

Malmendier: Dabei ist es so wichtig, in diesen Bereichen Risiken einzugehen und ein Umfeld zu schaffen, in denen solche Firmen nicht nur „gestartet“ werden, sondern auch wachsen können. Das ist es, was Deutschland braucht, wenn wir aus dieser Stagnation wieder herausfinden wollen.

Sind die Deutschen also risikoscheue Schwarzmaler?

Malmendier: Ich denke schon, dass wir Deutschen ab und an mehr zum Schwarzmalen neigen als zum Beispiel der typische Kalifornier. Und das interessiert mich als Verhaltensökonomin sehr. Wenn wir psychologisch positiver eingestellt wären, könnte das helfen. Zum Beispiel bei der Bereitschaft, Risiken einzugehen: Wachstum kann nur von neuen, zukunftsorientierten Technologien kommen – und die sind generell riskant. Die meisten Investitionen in diesen Bereichen werden sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht rechnen. Das Risiko trotzdem einzugehen, ist aber mehr als Optimismus oder Pessimismus. Ein Unternehmer sieht die Gelegenheit, durch solche Investitionen dazuzulernen und die Chance, etwas zu auszuprobieren, das am Ende einen Riesenunterschied machen könnte. Wenn nicht klappt, lernt er oder sie daraus und versteht anschließend besser, was der Markt braucht. An dieser Bereitschaft, die alten Pfade zu verlassen, fehlt es mir manchmal in Deutschland. Nicht nur auf Unternehmensseite, sondern auch auf politischer und institutioneller Seite. Man entscheidet sich lieber für die Sicherheit, keinen Fehler zu machen, als für die Unsicherheit, einen großen Fortschritt zu erreichen.


„Solche Entwicklungen wie in Heilbronn-Franken sind genau das, was Deutschland jetzt braucht.“
Prof. Dr. Ulrike Malmendier


Gerade in Heilbronn-Franken gibt es aber eine starke Start-up-Szene:  es gibt das IPAI, neue Technologien und tragfähige Netzwerke. Ist unsere Region damit ein Vorbild für das ganze Land?

Malmendier: Solche Entwicklungen wie in Heilbronn-Franken sind genau das, was Deutschland jetzt braucht. In der Tat hat die Region in vieler Hinsicht eine Vorreiterrolle. Ich würde mir aber wünschen, dass es noch stärker ins Bewusstsein sowohl regionaler Wirtschaftsförderung, als auch der Gründer und der Wirtschaftspolitiker kommt, dass es nicht nur darum gehen kann, eine tolle Start-up-Szene zu haben – das haben wir in der Tat wirklich gut geschafft in Deutschland. Da blicken Leute aus dem Silicon Valley sogar neidisch auf uns und sagen mir: Deine deutschen Studenten haben es viel leichter als wir, die haben Förderungen, Ko-Finanzierungen, Initiativen.

Sondern? Was fehlt in Deutschland?

Malmendier: Woran es hapert, ist die Wachstumsphase – und das ist das Traurige: Wenn sich herausstellt, dass eines dieser Unternehmen wirklich Wachstums-Chancen hat und in den Scale-Up eintritt, sind wir schlecht aufgestellt. Es gibt immer mal einzelne Glücksnachrichten – etwa, dass es Aleph Alpha geschafft hat, 500 Millionen Euro zu bekommen. Aber das betrifft nur eine Minderheit. Viele finden entweder keine Finanzierung oder wandern ins Ausland ab. Der wirtschaftspolitische Trugschluss ist: Wir sorgen in Deutschland dafür, dass gegründet wird – aber dann haben wir irgendwie die Hoffnung, dass solche Unternehmen auch automatisch im Land bleiben werden und uns helfen, Wachstum zu erzielen. Das tun sie aber regelmäßig nicht. Gerade die Erfolgreichen ziehen in die USA.

Aber gibt es nicht auch „standorttreue“ Start-ups?

Malmendier: Selbst wenn diese Verlagerung ins Ausland in der Wachstumsphase noch nicht passiert, bleibt der Knackpunkt: Wollen solche Start-ups irgendwann auf den Exit zusteuern und an den Kapitalmarkt gehen, können sie in den USA wegen größerer Kapitalmarkttiefe bessere Preise für den Verkauf der Aktienanteile erzielen. Dieses Thema müssen wir angehen und uns mehr auf die World-Scale-up-Phase konzentrieren. Sowohl von Finanzierungsseite – das ist aus meiner Sicht essenziell – als auch von der Kultur der Förderung und Risikobereitschaft.

Was wäre ein wirkungsvolles Signal aus einer neuen Regierung, um Unternehmer in Deutschland zu halten?

Malmendier: Wenn ich in Gesprächen mit Unternehmern und Vorständen frage, wo ihnen der Schuh drückt, sagen sie, sie  wissen nicht, wo sie die Arbeitskräfte finden. Falls sie sie finden, sind sie oft sehr teuer. Bei den Lohnstückkosten lag Deutschland noch nie besonders niedrig – und jetzt sind sie auch im europäischen Vergleich noch weiter gestiegen. Für die Unternehmer wäre es wichtig, dass, wenn sie Arbeitskräfte für eine innovative Idee einstellen, sie die auch wieder gehen lassen dürfen, wenn es nicht funktioniert. Dann müssten sie kein „Labour Hoarding“ betreiben, wie wir es zunehmend in Deutschland beobachten.

Wappnen sich Unternehmen mit  „Labour Hoarding“, dem Horten von Arbeit und Personal, gegen Fachkräftemangel?

Malmendier: Den Ausdruck „Labour Hoarding“ haben meine Kollege aus der Arbeitsökonomie erfunden; er bedeutet: Selbst wenn ich für Arbeitskräfte keine Verwendung habe, weil die Auftragslage es nicht hergibt, behalte ich sie, weil ich nicht weiß, wann ich wieder welche bekomme. Wenn ich aber den gleichen Output mit zwei statt mit einer Person herstelle, ist meine Arbeitsproduktivität im Keller – und dann kann mein Unternehmen nicht langfristig erfolgreich sein. Dieses Problem des Mangels an Arbeitskräften belastet die Unternehmen in Deutschland derzeit sogar noch mehr als das der Energiekosten, die ja in der öffentlichen Diskussion eine große Rolle spielen.

Apropos Fachkräfte: Für Innovationen und neue Technologien braucht man kluge Köpfe. Sind diese klugen Köpfe die entscheidende Zukunfts-Chance für Deutschland, aber insbesondere für Heilbronn-Franken, um auch künftig Weltmarktführer-Schmelztiegel zu sein?

Malmendier: Ja, darin sehe ich nach wie vor einen großen Wettbewerbsvorteile für Deutschland. Bei allen Klagen über das sinkende Bildungsniveau, haben wir nach wie vor kluge Köpfe und gute Ausbildungswege, insbesondere in den Naturwissenschaften. In den USA scheitern Expansionspläne manchmal daran, dass es an gut ausgebildeten Leuten für die Produktion fehlt. Diese Situation haben wir in Deutschland trotz Fachkräftemangel noch nicht. Mit diesem Pfund muss Deutschland wuchern.


„Ich denke schon, dass Deutschland in vieler Hinsicht ein attraktives Land ist.“
Prof. Dr. Ulrike Malmendier


Fachkräftemangel ist, wie Sie sagen, auch hier schon spürbar. Was ist politisch notwendig, um ausländische Fachkräfte ins Land zu holen?

Malmendier: Ich denke schon, dass Deutschland in vieler Hinsicht ein attraktives Land ist: Interessante Firmen, gute Jobs, ein sicheres Rechtssystem. Ich habe manchmal den Eindruck, deutsche Politiker denken, wir würden überrannt werden, wenn wir Fachkräfte schneller und unkomplizierter ins Land lassen würden. So ist es aber nicht. Der Knackpunkt ist die Langsamkeit der Prozesse: Die Anerkennung von Abschlüssen, die Genehmigungen. Und mangelnde Servicekultur – sich vom Kita-Platz bis zum Stromanschluss um alles kümmern für die angeworbenen Arbeitnehmer. Große Unternehmen können das durchaus leisten, kleinere Unternehmen haben vielleicht nicht genug Ressourcen.

Werden diese Maßnahmen ausreichen?

Malmendier: Ideen, wie in der Wachstumsinitiative der alten Bundesregierung vorgesehen, wären ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Das würde es ausländischen Arbeitnehmern wesentlich einfacher machen, einzuwandern. Ich persönlich glaube auch, dass Initiativen für steuerliche Vergünstigungen für top ausgebildete Fachkräfte, die in anderen Ländern wie Italien umgesetzt wurden, sich für uns lohnen würden.

Als dieser Vorschlag publik wurde, war der Aufschrei „ungerecht!“ im Volk aber extrem laut vernehmbar.

Malmendier: In der Tat. Das wurde in Deutschland kontrovers diskutiert: Wir wollen uns hochverdienende, höchst qualifizierte Menschen ins Land holen, und dann müssen die nicht einmal die vollen Steuern bezahlen, obwohl sie die dicksten Löhne kassieren – ja, ich verstehe, dass das schwer zu schlucken ist. Aber man muss sehen, wie sehr sich das für uns rechnen würde, wenn wir so den High-Performance-Bereich bei den Fachkräften ausbauen. Auch wenn ich mich unbeliebt mache: Ich sehe darin durchaus einen Vorteil für das Wirtschaftswachstum.

Und was wären aus Ihrer Sicht die wirkungsvollsten Investitionsanreize für deutsche Unternehmer? Die sind laut Umfragen derzeit sehr zurückhaltend.

Malmendier: Damit kommen wir zurück auf die wirtschaftspolitische Unsicherheit: Wenn der Unternehmer nicht weiß, wohin die Reise geht, weil es immer wieder 180-Grad-Wenden gibt, zermürbt das. Das muss sich schnellstens ändern. andere Thema ist: Wenn wir schon von staatlicher Seite Investitionen ankurbeln wollen, dann bedrückt es mich, dass die Amerikaner das so viel effektiver hinkriegen als wir mit unseren Subventions- und Förderprogrammen. In Deutschland muss man lange Anträge stellen, und man weiß oft nicht, ob man sich qualifiziert. Danach dauert es ewig, bis Mittel genehmigt sind und Geld fließt. Die Amerikaner gehen viel direkter heran: Wenn du als Unternehmer dieses oder jenes Gut herstellst, subventionieren wir dir die Produktion mit folgendem Betrag. Es gibt keine Diskussion, ob man das Geld erhält oder nicht – es ist viel schneller und sicherer da. Natürlich ist auch in dem System nicht alles perfekt, oft werden Mitnahme-Effekte kritisiert. Aber statt wieder zu zögern, weil wir unbedingt die allerbeste Lösung wollen, sollten wir sagen, wir probieren das einfach mal. Da sollte Deutschland experimentierfreudiger werden.

Aber lässt sich dieses System einfach so kopieren?

Malmendier: Mir wird auch immer gesagt, so einfach sei das alles nicht, es gebe EU-Recht und EU-Beihilferecht. Ja, stimmt. Aber ich glaube schon, dass es Möglichkeiten gibt, etwas zu testen.

Also ist mehr Experimentierfreude angesagt bei den Themen, die Deutschland bremsen?

Malmendier: Nehmen wir das Thema Regulierung. Alle Parteien wollen diese reduzieren, weil es eine große Klage der Unternehmer ist, gerade auch der kleinen und mittelständischen, die gar nicht die Kapazität haben, sich um diese ständig geänderten Regulierungen zu kümmern. Da sollte man überlegen, ob man in bestimmten Bereichen mit den so genannten „Regulatory Sandboxes“ arbeitet. Das bedeutet übersetzt ungefähr „Experimentierräume“, „Sandkästen“ für Regulatorik.

Probieren geht also über studieren?

Malmendier: Wir sollten überlegen, wo wir Bürokratie radikaler zurückschneiden können. Gerade weil wir in Deutschland so viel Angst haben, Fehler zu machen und vielleicht wichtige Schritte zu übergehen, könnten wir uns mit den „Regulatory Sandboxes“ bewusst in den Experimentierbereich begeben und es in kontrolliertem Umfeld ein halbes Jahr lang probieren – dann sehen wir ja, welche Probleme sich ergeben. Aus Vorsicht im Status Quo zu verharren, wird uns nie aus diesem Bürokratie-Dschungel herausführen.

Ein anderes Signal wäre die von Ihnen vorgeschlagene feste Quote für staatliche Investitionen in Rüstung, Infrastruktur und Bildung.

Malmendier: Es geht ja bei allen drei genannten Bereichen um Investitionen des Staates, die sich erst langfristig auszahlen. Der Politiker hat oft vor allem die aktuelle Not der Menschen und auch Unternehmen vor Augen. Aber Investitionen, die sich erst in zehn bis 20 Jahren für zukünftige Generationen auszahlen werden, werden meist zu wenig bedient. Im Sachverständigenrat Wirtschaft denken wir, dass so eine Quote, wie für den Bereich Verteidigung und Bildung im Jahresgutachten 2024/25 angedacht, zumindest ein Schritt in die richtige Richtung wäre, damit diese Ausgaben nicht immer wieder  im letzten Moment vernachlässigt werden zu Gunsten aktueller Erfordernisse – zuletzt etwa aufgrund der Energie- oder der Flüchtlingskrise. Das sind alles wichtige Probleme. Aber wenn es jedes Jahr ein anderes Argument gibt, warum wir schon wieder nicht in die nächste Generation investieren, werden wir irgendwann ein Riesenproblem haben. Die Lösung muss nicht unbedingt eine Quote sein, zum Beispiel wäre bei der Verkehrsinfrastruktur vielleicht ein abgegrenzter Fonds die richtige Methode, damit stabil in Tiefbau, in Verkehrsinfrastruktur, in den Modernitätsgrad von Brücken, Straßen und Schienen investiert werden kann.


„Wir brauchen nicht nur die Schuldenbremse. Was wir brauchen, nenne ich gern eine Kurzsichtigkeitsbremse.“
Prof. Dr. Ulrike Malmendier


Damit wäre einem Investitionsstau, wie er über Jahrzehnte entstanden ist, vorgebeugt?

Malmendier: Wichtig ist, dass wir die langfristigen Investitionen und Ausgaben trennen von der Frage der fiskalischen Spielräume, die ja in der Öffentlichkeit eine große Rolle spielen – Beispiel Schuldenbremse. Liegt unser Elend an der Schuldenbremse, weil der Staat nicht genug ausgegeben hat für langfristige Investitionen? Historisch gesehen haben wir die Schuldenbremse selten ausgereizt und haben trotzdem zu wenig in Verteidigung und Infrastruktur investiert. Heißt: Wir brauchen nicht nur die Schuldenbremse, die durchaus ihren Sinn hat, auch wenn man sie sicherlich besser gestalten könnte als derzeit. Was wir brauchen, nenne ich gern eine Kurzsichtigkeitsbremse – eine Hilfe, Zukunftsorientierung bei den Haushaltsentscheidungen umzusetzen und rein kurzfristig orientierte Ausgaben einzugrenzen.

Was wäre Ihr Appell an die Unternehmen unserer Region?

Malmendier: Ich spreche jetzt aus der Perspektive einer Person, die in den USA und in Deutschland lebt. Mein erster Eindruck ist: Wir wuchern manchmal nicht genug mit unseren Pfunden. Wir haben kluge Leute, top ausgebildete Arbeitskräfte, die dafür sorgen, dass hier hervorragende Produkte entwickelt und produziert werden. Wir sollten diese Leute in Deutschland halten und noch weitere anlocken. Das sollte hohe Priorität haben, auch wenn uns etwas mehr kostet. Das Zweite sind unsere Arbeitsprozesse. Auch hier sollte man sich seiner Qualität ebenso bewusst sein wie der Wahrnehmung, wo man hinterherhinkt. Statt die alten, ausgetretenen Pfade weiterzugehen, brauchen wir eine Mischung aus dem Bewusstsein, wo unsere Vorteile liegen und zukunftsorientierten neuen Technologien.

Also braucht Deutschland eigentlich nur einen guten PR-Berater?

Malmendier (lacht): Ja, vielleicht  einen PR-Berater und zusätzlich auch noch ein bisschen psychologisches Training, um diese neuen Pfade zu betreten. Ich weiß, viele Unternehmer sind dazu bereit. Aber die Mehrheit sowohl in der Industrie als auch in der Finanzwelt braucht vielleicht einen Schubs, um loszugehen. Das wäre sehr wichtig für Deutschland. Bleiben wir gespannt.


Zur Person

Die Top-Ökonomin Prof. Dr. Ulrike Malmendier unterrichtet seit 2005 an der Haas School of Business der University of California, Berkeley Finanzmarktökonomie. Nach einer Ausbildung bei der Deutschen Bank studierte sie als Stipendiatin VWL und Jura und promovierte in beiden Fächern. Ihr Forschungsschwerpunkt sind die kognitiven Verzerrungen im Kontext von Unternehmensführung und finanziellen Entscheidungen. Im August 2022 berief die deutsche Bundesregierung Ulrike Malmendier in den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.


Interview von Natalie Kotowski

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